Gesellschaftlichkeit
Segeln als politischer Ausweg

vg

1. Einleitung

Im Laufe dieses Artikels wird herausgearbeitet, daß Segeln früher kein Sport im modernen Sinne war, sondern im deutschsprachigen Raum als eine Antwort auf die Industrialisierung aufzufassende, zutiefst politische Lebensform der Oberschicht zu sehen ist. Der Segelclub bildete in Deutschland und teilweise in Österreich nicht, wie u.a. die Sportsoziologen behaupten, einen Staat im Staat, sondern es wurde bewußt ein "Staatswesen" außerhalb des Nationalstaates geschaffen. Besonders deutlich läßt sich dies am internationalen Bodensee aufzeigen, an dem in den letzten 150 Jahren die unterschiedlichsten politischen Systeme aneinandergrenzten. Dies erlaubt weitreichende Rückschlüsse auf die Sozial- und Politikgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts.

Inhalt

  1. Anfänge
  2. Segeln - ein Sport?
  3. Politische Einflüsse
  4. Die Einflüsse der Industrialisierung
  5. Neusemantisierung
    1. Geld
    2. Zeit
    3. Natur
    4. Freiheit und Distanz
  6. Die Gesellschaftlichkeit
    1. Die Segler als eigene Gesellschaft
    2. Das "Staatswesen" der Segler
      1. Satzungen
      2. Yachtgebräuche
      3. Flaggen
      4. Hymnen
      5. Volk
      6. Mitglieder
      7. Eigene Welt
      8. Frauen
      9. Uniform statt funktionaler Seglerbekleidung
      10. Abzeichen und Orden
  7. Verteidigung der Gesellschaftlichkeit
  8. Das personalistische Weltbild
  9. Imitation der Adligen
  10. Stil, Formgefühl und Harmonie
  11. Soziale Hintergründe
  12. Erster Weltkrieg
  13. Weimarer Republik
  14. Ingenieure
  15. Demokratie
  16. Resümee

2. Anfänge

Abgesehen von ersten zaghaften Gründungen seit den 1830er Jahren in Berlin, Königsberg und Hamburg, die entweder wieder eingingen oder viele Jahre vor sich hin kränkelten, entstanden die meisten Segelclubs in Deutschland erst in der Kaiserzeit. Die Schwerpunkte des frühen deutschen Segelsports lagen nicht im Süden, sondern in Berlin und Hamburg, gefolgt von einigen Küstenorten wie Bremen, Lübeck und Kiel. 1888 existierten in Deutschland bereits 29 Segelclubs mit 2.118 Mitgliedern und 500 Wasserfahrzeugen allein im damals gegründeten Deutschen Segler-Verband (DSV).

In Österreich läßt sich eine noch krassere Teilung in Meer- und Binnensegeln erkennen als in Deutschland, wobei in Wien ab 1875 zwei Engländer das Segeln einführten. Die Elite der K.u.K. Monarchie 'ließ' jedoch ihre Yachten ab 1888 an der Adria segeln und versuchte sich an England zu orientieren, wobei das k.u.k. Yacht-Geschwader in Pola jedoch für Österreich nie eine vergleichbare Rolle wie Kiel in Deutschland einnahm. Als Gegenbewegung kam es bei den österreichischen Binnensegelclubs bereits früh zu einer erstaunlichen Anlehnung an Deutschland, die 1917 zum Zusammenschluß aller Clubs unter dem deutschen Dachverband führte, der bis in die Mitte der 30er Jahre aufrecht erhalten wurde. Die österreichischen Segler sahen deutlich: "der österreichische Binnensegelsport - stand von Anbeginn unter dem Einfluß des deutschen Segelsports."

In der Schweiz kam es zu einer überaus interessanten Binnenteilung. Während nach der Gründung des ersten Clubs 1872 im von Paris beeinflußten Genf in der französischen Schweiz weitere Vereine bis zum Ende des Ersten Weltkriegs entstanden, gelang es in der Ostschweiz nur in Zürich, einen Segelclub zu gründen, der jedoch vor dem Ersten Weltkrieg unter erheblichen (in den anderen Bodenseeanrainerstaaten unbekannten) Problemen litt und sich nur mühsam entwickelte. - Es läßt sich somit für den deutschsprachigen Raum festhalten, daß der Segelsport in den durch starke Monarchien regierten Ländern früher entstand und sich vor allem schneller ausbreitete als in der Vorzeige-Demokratie Schweiz.

Das erstaunliche Wachstum darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß man allgemein im Deutschland in der Entwicklung des Segelsports im Vergleich zu den Engländern und weiteren europäischen Ländern um Jahrzehnte zurücklag. Vor allem war es darauf zurückzuführen, daß hier die Industrialisierung mit dem parallel einhergehenden Aufstieg des Bürgertums später erfolgte. Die Hochindustrialisierung setzte in Deutschland erst ab ca. 1830 ein. Hinzu kam, daß sich in Deutschland die bürgerliche Revolution in drei bis vier Etappen vollzog: den Napoleonischen Reformen, der Revolution von 1848 und der Gründung der Zollvereine, sowie schließlich der Reichsgründung. Erst mit der Reichsgründung wurde nach 1871 langsam ein einheitliches Wirtschaftsgebiet mit einheitlichen Zöllen, Maßen und Gewichten geschaffen, welches entscheidend zum Wohlstand des Bürgertums beitrug.

Die häufig auffindbare Darstellung, daß der Segelsport sich aus der Muse der Adligen entwickelt hätte, läßt sich für die deutschsprachigen Länder nicht belegen. Im Gegenteil kann man Adlige in praktisch allen Revieren erst erhebliche Zeit nach den Bürgerlichen als Segler nachweisen. So gehörten z.B. die ersten Besitzer von Segelbooten am Starnberger See dem Bürgertum an - darunter befanden sich auffällig viele Maler. Grundsätzlich deutet sich an, daß in den bayerischen Gewässern und am Bodensee die Künstler bei der Entstehung des Segelsports eine wichtige Rolle spielten. Angesichts der ihnen in größerem Umfange zur Verfügung stehenden Freizeit erscheint dies durchaus möglich. Erst Ende der 1870er Jahre finden sich z.B. einzelne adlige Segler am Starnberger See. Fast dieselbe Entwicklung zeigte sich am Bodensee. Vor allem das organisierte Segeln in Clubs wurde von Bürgern initiiert. Die Segelclubs am Bodensee legten sich Adlige als illustre Mitglieder und Gönner erst kurz vor dem Ersten Weltkrieg zu, wobei der Königlich Württembergische Yachtclub 1911 den Anfang machte, dem andere aus Werbezwecken folgen mußten.

Jedoch im Süden Deutschlands - womit anfangs fast ausschließlich Bayern gemeint war - lag man in der allgemeinen Entwicklung im Segelsport noch weiter zurück. Die Gründung des Lindauer Segler-Clubs 1889 belegt, daß der Bodensee der bereits verspäteten Entwicklung in allen Anrainerstaaten nochmals hinterherhinkte. Er war damals und blieb für alle Anrainerstaaten bis heute segelsportlich ein Randgewässer, auf dem sich jedoch aus diesem Grund die alten Traditionen abgeschirmt länger hielten und sogar zu einer in der Praxis gelebten Blüte führten, welche die nationalen Zentren oft nur geistig verwirklichen konnten.

3. Segeln - ein Sport?

Der vermutlich 1835 in Stralau (östlich Berlins) gegründete Segelclub die "Tavernen Gesellschaft" beabsichtigte, mit Segelbooten auf den Berliner Gewässern "Korsofahrten, Blumenschlachten und Picknickfahrten" durchzuführen - Bezeichnungen, dies sich bis zum Ersten Weltkrieg auch am Bodensee ständig finden. Der 1855 in Königsberg gegründete Segelclub Rhe widmete sich zuerst auch nicht dem Regattasegeln, sondern dem Corsofahren. "Der Zweck der Verbindung ist, im Sommer amüsante Segelparthieen zu befördern". - Begonnen hat das sportliche Segeln mit besonderen Exerzitien, dem Touren- und Fahrtensegeln - dem sogenannten "Lust-Segeln" - und hier lag bis heute der Schwerpunkt der Segelaktivitäten.

Wichtig ist für viele frühen Gründungen bereits der Name, welcher weder die Aktivisten (Segler) noch die Aktivität (Segeln) noch das Fahrzeug (Yacht), sondern die 'Gesellschaft' in den Vordergrund stellte. Viele Folgegründungen legten, wie der LSC in Lindau, Wert auf das Wort 'Segler'. Erst deutlich später, z.T. um Namensverwechslungen mit anderen Clubs in derselben Stadt zu vermeiden, ging man vermehrt zum Namensbestandteil 'Segeln' - der heute damit überwiegend assoziierten Aktivität - über. Somit belegen bereits die frühen Namen, daß die Sportaktivität nicht das ausschließliche Gründungsmotiv gewesen sein konnte.

Nicht nur die bereits sportlich rudernde Konkurrenz ließ sich abfällig über die Segler aus. "Leider hört man recht oft, nicht nur von Uneingeweihten, sondern selbst in wassersportlichen Kreisen den Vorwurf, daß die Segler nur Müßiggänger seien, sich vom Winde treiben und von der Sonne bescheinen ließen, ohne die Gelegenheit zur körperlichen Ertüchtigung zu haben, wie dies etwa beim Rudersport oder in der Leichtathletik der Fall sei." Sieht man 'Sport' als 'körperliche Betätigung', so ist die Frage, ob Segeln ein Sport ist, durchaus berechtigt, besonders wenn man das Fahrtensegeln betrachtet. Hieran zeigt sich jedoch, daß für die Oberschicht 'Sport' seinen Sinn nicht allein in der körperlichen Betätigung findet.

Wenn man zusätzlich bedenkt, daß vor allem am Meer zahlreiche Yachteigner ihre Boote segeln ließen, wird deutlich, daß man keineswegs sportlich sein mußte, um als Segler anerkannt zu werden. Vor dem Ersten Weltkrieg war es sogar üblich, daß die überwiegende Mehrheit der Clubmitglieder nicht segeln konnte. Nicht nur am Bodensee war es eher die Regel, denn die Ausnahme, daß die Mehrheit aller Personen eines Segelclubs den offiziellen Rang des außerordentlichen (passiven) Mitglieds inne hatten, und sich dieses Verhältnis sogar oft in den letzten Jahren vor dem Krieg noch deutlich zugunsten der Passiven verschob.

Mitglied eines Segelclubs wurde man damals nicht aufgrund irgendwelcher Segelkenntnisse, sondern weil man ein vollkommener Gentleman war. Dies erklärt auch die oft vagen Aufnahmebedingungen in den Satzungen.

4. Politische Einflüsse

Das zeitweise Fehlen weiterer Gründungen nach 1855 an der Küste läßt sich vermutlich z.T. durch die kriegerischen Auseinandersetzungen Preußens mit Dänemark 1864 sowie dem Deutschen Krieg 1866 erklären, und die nur vereinzelten Gründungen im Binnenland bis Mitte der 1870er Jahre mit dem Deutsch-Französischen Krieg.

Es läßt sich zwar selbstverständlich nachweisen, daß städtische Agglomerationen mit ihrer Industrie, dem Handel und der Verwaltung, sowie der dadurch zwangsläufig höheren Konzentration an wohlhabenden Bildungs- und Wirtschaftsbürgern der Entstehung von Segelclubs förderlich waren. Aber selbst in der größten Metropole der Deutschschweiz konnte - trotz Wohlstands und Friedens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts - nur unter größten Mühen ein Segelclub vor dem Ersten Weltkrieg entstehen, der lange um seine Existenz kämpfte. Und im ebenfalls wohlhabenden St. Gallen gelang es damals trotz Plänen nicht.

Überbewerten darf man diese militärisch-ökonomischen Faktoren nicht. Denn es ist ferner auffällig, daß in den Folgejahren von 1848 einige Wassersportclubs in Deutschland eingingen. Zwar folgte auf die Revolution auch eine wirtschaftliche Rezession, aber die nach 1848 einsetzende politische Repression des liberalen Bürgertums - unter anderem des Vereinswesens - hatte mindestens ebenso großen Einfluß auf die Verzögerungen. Da im Fall der Berliner "Tavernen Gesellschaft" zahlreiche Segelboote vorhanden waren und es im ebenso vermögenden Hamburg gleichfalls zu erheblichen Problemen kam, können rein ökonomische Motive nicht die einzige Rolle gespielt haben.

Warum sollte aber der Staat damals etwas gegen den Segelsport gehabt haben? Klären läßt sich dies nur, wenn man vom modernen Begriff des Sport-'Vereins' abgeht und sich dem des 'Clubs' zuwendet. So herrschte in allen Segelclubs am Bodensee vor dem Ersten Weltkrieg die Clubatmosphäre vor.

Die ersten Clubs entstanden ursprünglich in England und erhielten besonders während der Französischen Revolution eine politische Ausrichtung. Deshalb wurden Clubs 1793 in Deutschland durch Reichsgesetz verboten. Durch Bundesbeschluß von 1832 sowie einzelne Gesetze der Einzelstaaten wurde dieses Verbot auf alle Vereine und Versammlungen politischen Charakters ausgedehnt. Im deutschen Sprachgebrauch wird allerdings sehr häufig in den Beschreibungen des Clubs das aus dem englischen und französischen stammende "society" oder "société" mit Verein übersetzt und der 'gesellschaftliche' Charakter unterschlagen. Bei Clubs handelte es sich jedoch damals oft keineswegs nur um gesellige Vereine! Daß es mehr auf sich hatte, zeigt bereits die Kritik, daß Clubs "nicht selten zur Stütze des beschränktesten und traurigsten Kastengeistes" dienten. Insbesondere bei den Seglern, welche sich am englischen Vorbild orientierten, ist es in Deutschland unzulässig, die Komponenten "social", "social intercourse", "place of resort", "common vocation", "cooperation", "association", "political", "secret society" und "convivial" auf 'rein gesellig' zu reduzieren.

Dies zeigte sich an vielen Details. Im Lindauer-Segler-Club gab es im 19. Jahrhundert, im Unterschied zu einigen Norddeutschen Clubs, keine bezahlten Mannschaften und auch keinen vom Club angestellten Yacht-Matrosen. Allerdings gönnte man sich einen bezahlten "Vereins- oder Clubdiener". Und selbst 1910 wollte man im LSC wieder einen Clubdiener anstellen, fand jedoch keinen. Die Société Nautique de Genève (SNG) schaffte sich im 19. Jahrhundert sogar ein eigenes Kurorchester (Harmonie Nautique) an. Man imitierte in den Segelclubs nicht selten die prachtvolle Förmlichkeit der Adelswelt.

In Deutschland erfolgten besonders ab dem Ende der 1870er Jahre bis zum Ersten Weltkrieg zahlreiche Vereinsgründungen im ganzen Reich. Schon ab Ende der 1880er Jahre wurde in weitestgehend 'trockenen' Binnenstädten, wie Frankfurt und Augsburg, Segelclubs gegründet. Da auch bald die Mehrzahl der Segelclubs nicht an der Küste, sondern im Binnenland lag (mit Berlin als deutschem Wassersportzentrum), wird die geringe sportliche Komponente offensichtlich.

Erklären läßt sich jene Entwicklung mit dem Niedergang der liberalen Bewegung in diesem Zeitraum im öffentlichen Leben. Das relativ schwache Bürgertum in der Bodenseeregion setzte sich zusammen aus dem Bildungsbürgertum, den akademisch gebildeten Berufen, dem Wirtschaftsbürgertum, bestehend aus den Kaufleuten, Kapitalbesitzern, Fabrikanten, reichen Wirten, und dem Besitzbürgertum, welches nur wohlhabend oder gut situiert war. Diese Schichten fanden sich dann in den Segelclubs. Teilweise lassen sich sogar einzelne Personen bei diesem Übergang verfolgen.

5. Die Einflüsse der Industrialisierung

Entfunktionalisierung und Entsemantisierung der Segelschiffahrt

Warum wählten die vom Staat desilusionierten Liberalen jedoch ausgerechnet das Segeln? Geht man von der vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg oft vertretenen These der Kontinuität von der Berufssegelschiffahrt zum modernen Segelsport aus, läßt sich jenes Verhalten nicht erklären. Die Segler vor dem Ersten Weltkrieg postulierten jedoch exakt das Gegenteil! Die Segler der ersten Vereine am Bodensee gingen sogar noch erheblich weiter, indem sie die Lastensegler nicht zutreffend bereits vor dem Auftreten des Sportsegelns völlig verschwinden ließen. Man verdrängte geistig die Dinge, die man nicht wollte. Dies wird am Lied des Großherzoglich Badischen Yacht-Clubs kurz vor dem Ersten Weltkrieg deutlich. Dort wird der Niedergang der Segelschiffahrt zurückdatiert und selbst eine minimale zeitliche Überschneidung mit dem modernen Segelsport geleugnet: "Ach, aber ach, dann kamen schlimme Zeiten, / Die Segelkunst schlief ganz allmählich ein, / Kein stolzes Segel sah man ferner gleiten, / Nicht auf dem See und auch nicht auf dem Rhein, / Vorbei wars mit dem Segeln, /..., / Bis gleichsam über Nacht, / Ein Anfang wieder wurde neu gemacht./"

Diese übertriebene zeitliche Abgrenzung der elitären Segler von allem, das den Geruch von Arbeit hatte, traf eher den Kern. In der Tat war die Lastsegelschiffahrt am Bodensee bereits vor dem Aufkommen des ersten Dampfschiffes 1824 im Niedergang begriffen. Ihr Ruf als unzuverlässiges und aufgrund des Alkoholkonsums der groben Schiffer gefährliches Transportmittel war im 19. Jahrhundert jedoch noch viel schlechter als die ohnedies ernüchternde Realität. "Die Seeleute sind in der ganzen Welt verschrien wegen ihrer Derbheit und bekannt wegen ihrer Unhöflichkeit, am Bodensee aber ganz besonders. Es heißt da gleich: "'s isch halt a grobe Schiffmâ. '" Hinzu kam das unsichere Wetter, das bei Flaute entweder zu Zeitverzögerungen oder bei Sturm zu Unfällen führen konnte. - Das schlechte Image der Berufsschiffahrt galt übrigens nicht nur am Bodensee. Dr. Samuel Johnson schrieb 1759: "'No man will be a sailor who has contrivance enough to get himself into jail; for being in a ship is being in a jail, with the chance of being drowned'".

Mit Einführung der Dampfschiffahrt und der Eisenbahn kam es zu einem dramatischen Abstieg der Lastsegelschiffahrt. Diese Verdrängung ging am Bodensee wesentlich schneller von statten als am Meer. Hinzu kam seit Anfang der 1890er Jahre eine schnelle Konversion der Segelschiffe in Motorlastkähne. Hieraus wird ersichtlich, daß auf dem Bodensee die umfassende Ablösung der Berufssegelschiffahrt durch motorgetriebene Schiffe bereits früher als auf den Ozeanen erfolgte!

Eine Kontinuität der Schiffstypen gab es ebenfalls nicht. Handelte es sich bei den Berufschiffen um breite, schwere, langsame Lasttransporter, so wurden Sportsegelboote auf Leichtigkeit und schlanke Linien gebaut, die bei nur noch minimaler Transportkapazität von wenigen Personen und geringem Gepäck relativ schnell segeln konnten. Das völlig andere Rigg und die neuen Segelschnitte erlaubten Sportsegelbooten erstmals, hoch gegen den Wind zu kreuzen. Abgesehen von kleinen Segelgondeln für die Sommerfrischler, wurden deshalb fast alle Sportsegelboote am Bodensee lange aus fremden Gewässern - bevorzugt aus Hamburg, Berlin und dem bayerischen Raum - importiert.

Die beteuerte Kontinuität der Seglersprache von der Berufssegelschiffahrt zum Segelsport trifft nur für die Berufssegelschiffahrt auf dem Meer, mit Bezug auf das dortige Sportsegeln, zu. Am Bodensee wurden auch in der Segelfachsprache nur wenige Termini übernommen, die sich mit den Bezeichnungen des Sees in den Seekarten, der Winde und der Fischerei befaßten. Die neue Segelsportfachsprache wurde samt den Büchern aus Norddeutschland importiert. Dort hatten die ersten Segelclubs bereits die Grundlagen gelegt.

Es gab folglich auch keine Kontinuität bei den Personen: Kein Lastsegelschiffer wurde Mitglied in einem Yachtclub. Dies erklärt sich nicht nur aufgrund der überheblichen Ablehnung der Bürgerschicht gegenüber der schmutzigen Segelschiffahrt, sondern aus einem extremen, geradezu göttlichen Standesbewußtsein: "ein großer Segler vor dem Herrn, ein gottbegnadeter Segler". Segeln konnte man folglich nicht erlernen. Man wurde dank göttlicher Gnade als Gentleman und Segler geboren. Dies erklärt auch das Fehlen von Segelschulen und expliziten Lehrbüchern vor dem Ersten Weltkrieg.

Die damaligen Segelclubs machten folglich tabula rasa und bauten anschließend alles auf einem grünen Tisch nach Ihren Idealen neu auf. Hierzu waren die Rahmenbedingungen unerwartet günstig: In dem Maße, wie die Dampfschiffe die Segelschiffe verdrängten, wurden Segelfahrzeuge entfunktionalisiert. Sie verloren die Funktion als Transportmittel von Menschen und Waren. (Wichtig für die bewußte Distinktion der Oberschichten von den Unterschichten ist u.a., daß ein Objekt keine Funktion besitzt.) Mit dieser Entfunktionalisierung des Segelns ging auch eine umfassende Entsemantisierung einher. Das Wort Segeln war nun weitgehend von den als negativ angesehenen Assoziationen wie Arbeit, Mühe, Beruf, etc. befreit und konnte semantisch neu belegt werden. Erst dieser Vorgang ermöglichte es der Oberschicht, sich diese ehemals schwere und verachtete Arbeit der Unterschicht als Sport auszusuchen.

6. Neusemantisierung

Die Frage nach den Motiven der Oberschicht, Segeln, eine wenige Jahrzehnte zuvor schwere und von den Mitgliedern jener Schicht verachtete Arbeit, zu einer ihrer bevorzugten Sportarten zu machen, läßt sich nur in den Wechselbeziehungen zweier Räume - den ökonomisch sozialen Bedingungen und dem Lebensstil - dieser Oberschicht beantworten. Welche neuen Ideen wurden nun in das Segeln hineininterpretiert und damit assoziiert?

A. Geld

"Die verfügbaren finanziellen Mittel sind ... mitentscheidend für den Inhalt und die Ausgestaltung der Freizeit". So ist es nicht verwunderlich, daß jene Sportarten am häufigsten betrieben werden und sich zu Volkssportarten entwickelt haben, welche kaum oder kein Geld kosten. Es läßt sich feststellen, daß teure Sportarten, wie das Segeln, nur von wenigen betrieben werden können, welche das hierzu notwendige Kapital frei verfügbar haben. Eine Segelyacht ist somit für zahlreiche Menschen selbst heute noch der Inbegriff von Luxus.

"Um Ansehen zu erwerben und zu erhalten, genügt es nicht, Reichtum oder Macht zu besitzen. Beide müssen sie auch in Erscheinung treten, denn Hochachtung wird erst ihrem Erscheinen gezollt." - "Nur Verschwendung bringt Prestige." Nachdem durch die Industrialisierung mehr Menschen einen gewissen Wohlstand erreicht hatten, war einfaches Sporttreiben allein für die Oberschichten nicht mehr als Luxus anzusehen. Man mußte sich folglich besonders luxuriöse Sportarten aussuchen, um weiterhin seine Position nach außen verdeutlichen zu können. Typisch für die Oberschicht ist, Tätigkeiten ohne Rücksicht auf das hierzu benötigte Geld durchzuführen. Die Segelyacht konnte somit als Statussymbol gewertet werden. "Da der Konsum von besseren Gütern ein Beweis des Reichtums ist, wird er ehrenvoll, und umgekehrt zeichnet sich ein mangelnder quantitativer und qualitativer Verbrauch durch Würde- und Ehrlosigkeit aus." "Durch den demonstrativen Konsum wertvoller Güter erwirbt der vornehme Herr Prestige." "Wirtschaftliche Macht ist zunächst einmal Macht, der Not und dem Zwang des Ökonomischen gegenüber Distanz zu schaffen. Sie bringt sich daher universell in der Zerstörung von Reichtum zur Geltung, im ostentativen Akt der Verschwendung und Vergeudung sowie in allen Ausprägungen des zweckfreien Luxus."

Dieser Umstand erklärt mit, warum besonders in der Anfangszeit des Segelsports so viele große Segelyachten und kaum kleine Jollen zur Sportausübung benutzt wurden. Nicht der Segel'sport', sondern der demonstrative Konsum stand im Vordergrund. So lassen sich die enormen Geldbeträge erklären, welche für die Anschaffung und den Unterhalt der Schiffe ausgegeben wurden und werden. Noch teurer war der Regattasport, da man hierzu nicht in kurzen Abständen eine neue Rennyacht, sondern oft auch noch 'bezahlte Hände' benötigte. Somit stand für viele Eigner bei einer Regatta vor dem Ersten Weltkrieg nicht die sportliche Komponente, sondern der Aspekt des Prestiges durch demonstrierten Reichtum im Vordergrund.

Ähnliches gilt auch für den Amateurstatus in diesem Sport gegenüber dem Berufsstatus bei diversen Unterschichtensportarten. Die Freiheit von Arbeit ermöglichte es den Seglern, eine Umkehr der gewöhnlichen Geld-für-Arbeit-Beziehung zu demonstrieren. Man bezahlte sogar hohe Startgelder, um durch gute seglerische Leistungen einen Pokal oder eine Medaille zu erhalten. Noch selten vorhandene Geldpreise, deckten bei weitem nicht mehr die Kosten. Diese Leistung bei den Wettfahrten ist eine Art freiwillige Arbeit. Es handelte sich zusätzlich um eine weitere Veredelung der Arbeit. Der Gewinn stand grundsätzlich in keinem Verhältnis mehr zu den eigenen Investitionen zu seiner Erlangung. Die materialistische Realität wurde im Segelsport folglich durch Symbole ersetzt. Diese symbolischen Ehrenpreise waren jedoch zumindest damals für diese Schicht sehr wichtig. - Wie wichtig der Begriff der Ehre für die Oberschicht war, zeigt sich nicht zuletzt im Duell, in welchem die Mitglieder dieser Schicht demonstrierten, daß sie ihre Ehre nicht nur höher als Geld, sondern sogar höher schätzten als ihr Leben.

Bereits die Einzelanfertigung der Boote in Handarbeit nach speziellen Wünschen der Käufer paßt sehr gut zu der in der Oberschicht allgemein bekannten Ablehnung standardisierter Massenprodukte und der Betonung der Individualität. Der Besitz exklusiver Segelboote scheint auch mit der gesellschaftlichen Position der Eigner zu harmonieren. Hier entstand folglich in der segelnden Oberschicht selbst eine weitere, nuancierte Abgrenzung der einzelnen Individuen von einander - im Gegensatz zur Gesellschaft entstanden im Segelsport zuerst keine Gruppen!

Ein Segelboot kann somit durchaus als Symbol des gesellschaftlichen Erfolges angesehen werden. Segeln eignete sich somit aufgrund der Komponente Geld besonders gut für das Wirtschaftsbürgertum zur sozialen Selbstdarstellung. - Die klassenspezifische Verbreitung des Segelns läßt sich hingegen aus ökonomischen Motiven, wie wichtig diese auch sein mögen, nicht allein erklären. Letztendlich sollte nicht vergessen werden: Geld entschied zwar immer über einen Yachtbesitz, nicht jedoch über die Ausübung des Segelsports. Letzteres war auch ohne privaten Bootsbesitz z.B. im Segelclub möglich.

B. Zeit

Da sich der Zeitbegriff in der Gesellschaft des 18. und 19. Jahrhunderts deutlich veränderte, konnte auch er zu einem distinktiven Merkmal werden. Im Zuge der Reformation, des Merkantilismus und der Aufklärung kam es seit dem 18. Jahrhundert zu einer Veränderung des Zeitbegriffes. Zeit wurde nun als etwas Kostbares angesehen und mußte deshalb sinnvoll genutzt werden. Sie wurde folglich schärfer kalkuliert. Im Verlaufe des 19. Jahrhunderts verlor die Zeit auch ihre natürliche Referenz - die Sonne. Bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts war man noch vom natürlichen Licht abhängig. Danach wurde die Zeit zunehmend rationalisiert.

Am Bodensee läßt sich diese Veränderung der Zeit an der Entfernungsangabe feststellen. Während man noch in der Mitte des 19. Jahrhunderts Entfernungen auf dem Land und auf dem Wasser in Stunden angab, wobei eine Stunde ca. 5 km - der Wandergeschwindigkeit eines Menschen - entsprach, so wich dies vermehrt einer präzisen, wissenschaftlichen - fortbewegungsmittelunabhängigen - Angabe in Kilometern. Mit den Dampfschiffen wurden die Zeitbegriffe für Distanzen fragwürdig, wie es sich auch in den damaligen Äußerungen spiegelte: "eine Fahrt von zwölf Stunden, die in vieren zurückgelegt wird". Die Entwicklung von Zeit und Raum ging somit im 19. Jahrhundert auseinander. Beide waren nicht mehr direkt verbunden. Zeit konnte sich nun zur selbständigen Dimension entwickeln.

Auch die Einstellung zur Zeit hatte sich geändert. Die industrielle Revolution sowie der moderne Handel und Warenverkehr erforderten, daß es keine unkalkulierbaren Unterbrechungen oder Verzögerungen - wie sie bei Segelschiffen bei Flaute oder Sturm unweigerlich auftraten - mehr gab. Ferner mußte die für den Transport benötigte Zeit nicht nur genau kalkulierbar, sondern immer weiter reduzierbar sein. Zeit wurde nun gleichbedeutend mit Geld! Einer der wichtigsten Gründe dafür, daß sich die Dampfschiffe am Bodensee derart schnell durchsetzen konnten, lag folglich darin, daß hier die Seeverbindungen - selbst mit der in der Anfangszeit geringen Geschwindigkeit von 10-12 km/h - schneller als der Landweg waren. Mehrere zuverlässige Dampfschiffe ermöglichten, daß umfangreiche ganzjährige Fahrpläne bereits früh - wie der aus dem Jahr 1835 erhaltene zeigt - aufgestellt und eingehalten werden konnten. Mit den Dampfschiffen wurde die Seefahrt auf dem Bodensee somit berechenbar und verplanbar.

Wie wichtig die Zeit bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch am Bodensee im Bewußtsein des Einzelnen geworden war, zeigte sich am Geschwindigkeits'rausch', welchen Gäste auf dem zweiten Dampfschiff, der 'Max Joseph' verspürten. Angesichts der ersten Fahrt dieses Schiffes von Friedrichshafen nach Konstanz, für die man 2 1/4 Stunden benötigte, äußerte ein Passagier, daß "der Reiz der Reise durch diese Geschwindigkeit ganz besonders erhöht" wurde. Aber die Sucht nach größerer Schnelligkeit griff in der Bevölkerung zusehends um sich. So gab man dem 1824 wegen seiner Schnelligkeit noch gelobten Dampfschiff 'Wilhelm' in den frühen 1840er Jahren bereits den Beinamen "'Seeschneck'", und die Fahrgeschwindigkeiten der Dampfschiffe wurden laufend erhöht.

Zur Verringerung der Fahrzeiten kam als nächster Schritt die Verringerung der Wartezeiten für die Personen und die Güter durch völlige Integration der Dampfschiffkurse in den Zugfahrplan. Dies war durch die Übernahme der Dampfschiffgesellschaften in Staatsbesitz ermöglicht worden. Die Dampfschiffe hatten sich nun in einen von außen erzwungenen, rigiden Zeitplan einzupassen, der zunehmend auch auf die Nacht ausgedehnt wurde. Ab etwa den 1870er Jahren achtete man auf den Dampfschiffen auf genaueste Einhaltung der Kurse und Fahrzeiten für die Kursabschnitte auf dem See. Der Begriff der Freiheit war nun endgültig in der Berufsschiffahrt verschwunden.

Da die Zeit immer wichtiger wurde, ging man von den am Bodensee vorhandenen 5-6 Zeitzonen ab, und man paßte 1883 die Uhrzeit der Dampfschiffahrpläne an die Bahnzeit an. Der letzte Schritt zur künstlichen Zeit wurde Ende des 19. Jahrhunderts mit der Einführung der Mitteleuropäischen Zeit (MEZ) getan. Diese Kalkulierbarkeit lief parallel zu sonstigen Veränderungen im täglichen Leben. Während man zuerst auf die Stunden achtete, so wurden im Verlaufe des 19. Jahrhunderts die Minuten immer wichtiger. Regelmäßigkeit und Pünktlichkeit wurden nun - wie bei der Eisenbahn - auch bei den Dampfschiffen ins Extrem getrieben. Die "gesicherte und exakte Durchführung des Schiffsbetriebes [war] zum ersten Gesetze geworden." Die "ungestörte regelmäßige Abwicklung des sich täglich steigernden Verkehrs" war das obersten Ziel. Dies entsprach jedoch einem extremen - beinahe maschinellen - Funktionalismus, wie er später auch im Taylorismus in der Industrie sichtbar wurde.

Die Zeit hatte nun ihre abstrakteste Form auch in der Schiffahrt am Bodensee angenommen, und die Devise 'Zeit ist Geld' wurde seit dem 19. Jahrhundert zum Inbegriff des modernen Kapitalismus. In diesem Zusammenhang ist auch die erhebliche Zunahme der Verbreitung von Uhren zu sehen. "Die 'rationale' Zeitbestimmung hing nicht mehr vom Sonnenstand oder von einer bzw. von wenigen Uhren ab, die die Zeit für alle 'teilten'. Sondern die rationale Zeitteilung wurde seitdem derart allgemein, daß jeder sie ständig bei sich und fast schon in sich trug. Sie war nun ständig gegenwärtig, so daß die Zeit in gar keiner anderen Gestalt mehr auftrat als der rationalen. Zeit wurde gleich Uhrzeit."

Nicht nur für Handel, Industrie und Arbeiter, auch für die Oberschicht wurde die Zeit zu einem bestimmenden Faktor, sogar in der Freizeit. Zuerst wurde deshalb auf der am Bodensee seit etwa 1880 beginnenden Plakatwerbung mit Verkehrsmitteln geworben. Schnellere Verbindungen waren folglich für die Menschen selbst im Urlaub wichtig. Die Unrast der intensivierten Arbeit drang im 19. Jahrhundert somit auch vermehrt in die Freizeit ein.

Im Segelsport wurde durch die Oberschicht als Antwort auf diese Entwicklung eine äußerst frühe durchaus als Kritik zu wertende Neubewertung der Zeit beim Segelsport möglich: eine bewußte Abkehr vom modernen Zeitbegriff. - Die Entwicklung der 'Zeit' hatte für die Oberschicht nämlich auch eine nachteilige Wirkung. "Mit der wachsenden Kalkulierbarkeit verlor die Reise zugleich mehr und mehr ihren Charakter als ein soziales Privileg". Als Ersatz führte dies zum demonstrativen Müßiggang, der Verschwendung von Zeit. Muße darf hierbei jedoch keinesfalls mit Trägheit oder Ruhe verwechselt werden; "gemeint ist damit vielmehr die nichtproduktive Verwendung der Zeit. Dies geschieht aus zwei Gründen: 1. aufgrund der Auffassung, daß produktive Arbeit unwürdig sei, und 2. um zu beweisen, daß man reich genug ist, um ein untätiges Leben zu führen." Allgemein galt bereits im 19. Jahrhundert Sport als Beweis einer unproduktiven Zeitvergeudung.

Die im letzten Jahrhundert durchgeführte Abstraktion und Präzisierung der Zeit steht im völligen Gegensatz zum Segeln, bei dem man von der natürlichen Zeit weitgehend abhängig ist. Wind, besonders in der am Bodensee im Sommer überwiegenden Erscheinungsform des Land- und Seewindes, jedoch auch generell die Windstärke sind nur vom Stand der Sonne - dem im 19. Jahrhundert von den meisten überwunden geglaubten und auch nicht mehr gewollten Maß - abhängig. Als Folge ist ein Segeltörn, da von den Winden abhängig, zeitlich nicht planbar. Dies wurde auch am Bodensee selbst von den Zollbehörden so gesehen: "In der Hauptsache dürfte den Seglern bei der Abfahrt noch gar nicht bekannt sein, ob sie am schweizerischen Ufer landen wollen oder nicht; denn dies hängt von den Windverhältnissen ab, die sich über dem Bodensee oft rasch ändern, was auch sofort eine Änderung in den Fahrtzielen zur Folge hat. Aus den gleichen Gründen dürfte die Rückkunftzeit niemals auch nur annähernd bestimmt werden können".

Die Zurschaustellung von Freizeit und Muße eigneten sich im letzten Jahrhundert nicht nur als distinguierendes Zeichen der Oberschicht, sondern, indem man sich Zeit nahm, zeigte man auch, daß man sich von Zeit und Geld unabhängig fühlte. Es handelt sich folglich um eine Demonstration von Reichtum. Insbesondere für die Oberschicht ist es typisch, Tätigkeiten ohne Rücksicht auf die dazu benötigte Zeit durchzuführen. In diesem Sinne kann Segeln als weiteres Zeichen der Reichen zur Demonstration der uneingeschränkten Zeit gesehen werden. Man kann sogar weitergehen und im Segeln eine Umkehrung der Metapher 'Zeit ist Geld' sehen in: 'Wer genügend Geld hat, zeigt es dadurch, daß er demonstrativ Zeit konsumiert'. "Wer über wenig Zeit verfügt, kann sich kaum oder höchst selten den Luxus einer längeren Segelfahrt leisten, da man nach einem alten, in Seglerkreisen immer noch Geltung besitzenden Scherzwort wohl weiß, wann eine Segelfahrt anfängt, aber nie, wann sie aufhört." "Was macht es denn schon aus, ob die Reise [mit dem Segelboot] eine Woche, einen Monat oder ein Jahr dauert?" - Man begann damals, "den manchmal recht zeitraubenden Luxus einer Segelfahrt auszukosten."

C. Natur

Neben der konträren Zeitbewertung lag auch die geübte Rückwendung zur Natur in einer kategorischen Ablehnung der Industrialisierung mit ihren die Stellung des Bürgertums gefährdenden Auswirkungen begründet.

Das im 19. Jahrhundert erstarkende und zunehmend wohlhabendere Bürgertum erkannte, daß sein Lebensrhythmus vermehrt städtisch und industriell geprägt wurde. Hieraus erwuchs eine Stadtflucht und eine "Natursehnsucht". Seit Rousseau wurde "die Natur zum Fluchtort des modernen Sentimentalen vor Alltag und Gesellschaft". - In Zusammenhang mit der Natur ist die Behauptung unzutreffend, daß mit dem Wegfall des Nutzeffekts des Segelns der Erlebniswert erhalten geblieben wäre. Es handelt sich hierbei selbstverständlich um einen unterschiedlichen Erlebniswert, ob man eine Tätigkeit, wie die schwere Arbeit auf den Segelschiffen, im ständigen Kampf gegen die gefürchteten Naturkräfte verrichten mußte, oder ob man sie in der Freizeit unter idyllischen Wetterverhältnissen auf einer dafür besonders hergerichteten Segelyacht durchführen durfte. Im Segelsport wurde durch zahlreiche äußere Einflüsse, wie etwa die Faszination der Natur und der Naturkräfte, erst ein neuer Erlebniswert geschaffen. Vorher hatte man vor diesen Naturelementen unverhohlene Angst. Dieser Wechsel der Betrachtung des Bodensees läßt sich besonders in der Malerei und Literatur nachweisen, der den bildungsbürgerlichen Schichten ihren Wechsel zum Sport auf einem durchaus gefährlichen Gewässer ebnete.

Dies begann unterschwellig wahrscheinlich schon im letzten Jahrhundert bei der Einführung des Segelsports in Abgrenzung zur Dampfschiffahrt und später den Motorbooten. Gründe hierzu kann man im rasanten technologischen Umbruch mit seinen Folgen, wie Bevölkerungswachstum und Ausufern der Industriestädte sowie den zunehmenden wirtschaftlichen Krisen und sozialen Spannungen sehen.

Wind und Wasser, später auch die Sonne, übten abgesehen von ihrer bereits sensuellen Faszination eine damals mindestens ebensogroße mythische Anziehungskraft aus. Wichtig erscheint auch die immer wieder betonte "majestätisch[e]" Größe des Bodensees. Seit dem Beginn des Segelsports finden sich am Bodensee immer wieder diesbezügliche Aussagen der Segler und Seglerinnen: "Im Segelboot ist man so naturverbunden, so erdennah." - Zahlreiche Segler scheinen bis heute auf dem Wasser einen paradiesisch unberührten Urzustand der Welt zu suchen. "Sonnenauf- und Sonnenuntergänge", ein jeder einzigartig und unvergessen - weder verdorben noch verletzt von Smog, Dunst, Fernsehantennen, Plakatwänden, Hochhäusern.
Nur auf See erhebt sich die Sonne am Morgen noch rein, klar und voller Hoffnung und Wärme aus dem Bett der Natur und versinkt weich, zufrieden und mitunter faszinierend nach getaner Arbeit mit dem Versprechen des nächsten Tages."

Während der Mensch mittels der Industrialisierung gerade dabei war, sich endgültig die Erde untertan zu machen, und die Dampfmaschine in aller Augen gegen die Naturkräfte gesiegt hatte, lieferten sich die Segler bewußt diesen für überwunden geglaubten Naturgefahren aus und lehnten industrielle Hilfsmittel ab. Man kann sogar von einem "zelebrierten Kampf mit der Natur" im Segelsport sprechen, den das Individuum in einer bereits damals völlig anachronistischen Weise aufnahm. Daß die Allgemeinbevölkerung die deutschen Wassersportler Ende des 19. Jahrhunderts mit "'übergeschnappten Engländern'" verglich, ist bezeichnend.

Auch das in diesem Zusammenhang auffallende Motiv des Abenteuers eignete sich nur für die Oberschichten. Da die armen Unterschichten damals das tägliche Abenteuer des Überlebens bestehen mußten, hatten sie abgesehen von Zeit und Geld auch kein Bedürfnis nach weiteren Wagnissen. Den Oberschichten brachte jedoch das kurzzeitige Verlassen der absoluten Geborgenheit ihres Wohlstandes an Land eine ehrenvolle Distinktion ein. - Allerdings wurde der Ausdruck "Kampf" oft mißverstanden: Die "Segler kämpfen ... nicht gegen Wind und Wellen. Sie geben nach, sie ordnen sich unter, sie gehorchen. Das Merkwürdige ist aber - und darin besteht der eigentliche Reiz des Segelns -, daß sie eben dadurch, durch ihren Gehorsam, Wind und Wasser besiegen, und in ihren Dienst zwingen." Der Segelsport verlangt somit einen hohen Grad an Anpassungsvermögen, da sich Wind und Wellen, die Sichtverhältnisse, Temperatur, Luftfeuchtigkeit ständig ändern können. Am Meer kommen meist noch Ebbe und Flut hinzu. Ferner ist die komplizierte Navigation sowie technisches (z.B. aerodynamisches und hydrodynamisches) Verständnis notwendig.

Nicht Kraft, sondern ganzheitliche Bildung versetzt eine Person somit in die Lage diesen hochkomplizierten Sport auszuüben. Dies erklärt, warum einerseits das Bildungsbürgertum solches Interesse an dieser Sportart fand, und andererseits Segeln bis heute mit anderen Sportarten kaum vergleichbar ist. Gut segeln kann man eigentlich erst im Alter. - Ergänzt wurde diese Einstellung durch das der Oberschicht inhärente ästhetische Moment, welches man u.a. bei Yachten sah, die teilweise wie Kunstwerke beschrieben wurden. Sogar die Segler am Bodensee sprachen vor dem Ersten Weltkrieg von der "Segelkunst". Als Konsequenz wurde der Segler zum gottbegnadeten Künstler. Bis heute hielt sich diese im Kern religiös-ständische Denkweise. Folglich war das Segeln nicht erlernbar, sondern dem Gentleman angeboren. Segelschulen konnten deshalb nicht entstehen, sogar Segellehrbücher im eigentlichen Sinne gab es vor dem Ersten Weltkrieg nicht - nur weiterführende Literatur.

In erstaunlicher Weise wurde mit der Natureinstellung der Segler eine 'Schwarz-Weiß-Malerei' betrieben, welche sich bis heute in Details widerspiegelt. Während für Eduard Mörike um 1840 Dampfschiffe und idyllischer Bodensee noch zusammen paßten, scheint sich danach in der Oberschicht ein Wandel vollzogen zu haben. Mit den Dampfschiffen setzte die Kommerzialisierung des Bodensee-Tourismus 1824 ein. Und bereits in der zweiten Jahrhunderthälfte war im Tourismus ein nüchterner Geschäftssinn überall spürbar. Auch am Bodensee nahm der Reisende den See nur noch durch das Dampfschiff wahr. Die Wasserfläche wurde auf Plakaten und Postkarten im 19. Jahrhundert überwiegend durch die Dampfschiffe symbolisiert. - Die Dampfmaschine galt aber als "diszipliniert" und die Wahrnehmung darauf galt als "ärmer", "unnatürlicher" und "unfreier".

Bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sprachen einige schon davon, daß auf dem Dampfschiff "die herrliche Gegenden ... an uns vorüberfliegen." Die stetig höhere Geschwindigkeit führte zu einer immer flüchtigeren Wahrnehmung der vorbeiziehenden Natur. Je schneller man mit dem Dampfschiff durch die Natur fuhr, umso mehr Eindrücke erhielt man pro Zeiteinheit, umso oberflächlicher wurde die Betrachtung und umso unpersönlicher die Beziehung. Die Landschaft läuft dabei wie ein künstlicher Film oder ein Panorama vor dem Reisenden ab. Durch die Geschwindigkeit verschwindet der räumliche Nahbereich oder Vordergrund und die Tiefenschärfe geht notwendigerweise verloren. Ruskin behauptete: "das Reisen wird nämlich im genauen Verhältnis zu seiner Geschwindigkeit stumpfsinnig." Auch bei der Fahrt mit dem Dampfschiff fand eine Entrückung der Landschaft für den Reisenden statt. Erstens befindet er sich auf dem Dampfschiff relativ hoch und zweitens bewegt sich dieses mit im Vergleich zu Segelschiffen hoher Geschwindigkeit. Hinzu kommt die Größe des Dampfschiffs. Das Reisen mit der Dampfkraft verursachte durch die erzwungene Untätigkeit bald Langeweile, Monotonie und Ungeduld bei den Reisenden. All diese Eigenschaften widersprachen jedoch den Bedürfnissen der Oberschicht nach persönlicher Beziehung und Tiefe.

Für die Industrialisierung und besonders die Eisenbahn erkannte man die "Vernichtung von Raum und Zeit", welche auch am Bodensee im 19. Jahrhundert für die Dampfschiffahrt galt. Genau genommen wird nur das überlieferte Raum-Zeit-Verhältnis - also die alte Beziehung von Entfernung und Zeit - vernichtet. Früher war dies am Bodensee geprägt durch den organisch in die Natur eingebundene Menschen mit seiner normalen Wandergeschwindigkeit. Auch bei den Dampfschiffen verlor das Raum-Zeitbewußtsein die gewohnte Orientierung. Einher ging ein Verlust der Wahrnehmung. "Welche Veränderungen müssen jetzt eintreten in unsrer Anschauungsweise und in unseren Vorstellungen! Sogar die Elementarbegriffe von Zeit und Raum sind schwankend geworden." Mit dem Dampfschiff wurde der Bodensee zum Zwischenraum oder Reiseraum, der möglichst schnell durchquert wird. Die Reise über den Bodensee wurde somit zweckorientiert. Die Dampfschiffahrt kannte nur noch Start- und Zielhafen, eventuell unterbrochen oder verbunden durch Umsteigehäfen, sowie Abfahrts- und Ankunftszeit. Das Reisen wurde damit für die Menschen zielorientiert. Als Folge verlor die Landschaft ihre "Aura".

Segeln hingegen machte den Bodensee erneut zum Aufenthaltsraum und ermöglichte so eine andere - nämlich die altüberlieferte - Wahrnehmung des natürlichen Raumes. Beim Segeln trat die Fortbewegung an sich wieder in den Vordergrund. Das Ziel und vor allem die Ankunftszeit liegen weitgehend im Unklaren. Für die Oberschicht kam hierbei noch die Leugnung einer direkten Ziel- oder Zweckorientierung positiv hinzu. Genaugenommen war der Weg bereits das Ziel, da man sich auf dem Segelboot auch demonstrativ die Zeit nehmen konnte, um die Reise und die Natur zu genießen. Diese besondere Einstellung zur Natur distinguierte somit auch.

Man äußerte diese Kritik an der Industrialisierung jedoch meist indirekt durch die Ablehnung des Schmutzes und die Betonung der Sauberkeit. Dampfschiffe waren per se schmutzig. Ferner störten der Lärm und die Vibrationen der Dampfschiffe das Naturempfinden. Als Kontrast wurde Segeln aufgebaut. Da kein Schmutz entsteht, kann man makellos weiße Segel benutzen und ebensolche Kleidung tragen. Dieser Gegensatz wurde von Mitgliedern der Oberschicht, welche zudem noch Segler waren, durchaus so gesehen und auch formuliert: "Wolken schwarzen Rauches statt Wolken von weißen Segeln". Als Abgrenzung von der notwendigerweise schmutzigen kommerziellen Schiffahrt wurde deshalb für den Segelsport vor der Jahrhundertwende festgelegt: "Das propere Aeussere, die Reinlichkeit sind die Kennzeichen einer Yacht." Selbst in Kleinigkeiten wurde eine Distanz hergestellt. Die Bodensee-Dampfschiffe waren in den 1860er-80er Jahren bunt bemalt. Die Segler hingegen beließen ihre Schiffe grundsätzlich in der Naturholzfarbe oder strichen sie weiß. Noch Ende der 1920er Jahre waren etwa 95 % aller Segelboote weiß angestrichen.

Ferner ist es ein absolut leiser Sport, weshalb man Segeln als Rückzug in eine Idylle ansehen kann. Bereits 1904 schrieb ein Sportsegler: "Von hier aus öffnet sich aber dem Freunde des Tourensegelns und dem Naturschwärmer der Weg in das Land, welches noch nicht durch die die Poesie zerstörende Industrie, durch rauchende Schlote und surrende Maschinen verseucht ist." Deutlich wird hier die Natur beim Segeln nicht nur von der Industrie abgegrenzt: "Die herrliche Natur und Einsamkeit, die unseren Ankerplatz mit seinem kristallhellen Wasser umgab, verfehlte nicht, auf uns angenehm einzuwirken. Wir freuten uns, hierhergekommen zu sein, freuten uns, doch noch Plätze am See zu finden, welche, vom Strom der Reisenden nicht berührt, sich ihre Ursprünglichkeit bewahrten." Selbst der Tourismus in seiner modernen Form wurde als industriell und somit störend abgelehnt.

D. Freiheit und Distanz

Vor allem für die liberalen Kräfte, die sich vor dem Ersten Weltkrieg in großer Zahl in den Segelclubs finden lassen, war jedoch das Motiv der Freiheit wichtig. Abgesehen von der generellen Freiheit der Meere kam auch die Freiheit der Selbstentscheidung über Ziel und Kurs des eigenen Bootes hinzu. Damals konnten die Segler auf dem Wasser sogar noch die weitgehende Freiheit vor fremdbestimmten Gesetzen genießen.

"Indem die Verkehrsbewegung durch die Dampfkraft aus ihrer organischen Bindung gelöst wird, verändert sich ihr Verhältnis zum Raum, den sie bewältigt, grundlegend." Für die Schiffahrt im 19. Jahrhundert wurde bereits kurz nach der Jahrhundertwende festgehalten: "Ein reger Wettlauf auf den verschiedenen Wirtschaftsgebieten drängte gebieterisch auf Verkürzung von Raum und Zeit." Durch den Einsatz der schnellen Dampfschiffe, welche die Transportzeiten verkürzten, wurde der Bodensee industrialisiert und dadurch der natürliche Raum verringert - er schrumpfte zusammen. Gleichzeitig wurde der Verkehrsraum für den einzelnen Reisenden erweitert. Man konnte nun an einem Tag von Bregenz nach Schaffhausen fahren. Der Segelsport ermöglichte wieder die Umkehrung dieses industriellen Gedankens. Dadurch, daß man sich mit dem kleinen und langsamen Segelboot der Natur auslieferte, wurde quasi wieder der alte, größere Raum geschaffen, die alte natürliche Gegebenheit von räumlicher Entfernung als Hindernis wieder hergestellt.

Besonders im letzten Jahrhundert - in abgeschwächter Form auch noch heute - standen dem einzelnen Segler weite Flächen auf den Seen und Meeren zur Ausübung seiner Sportart zur Verfügung. Und selbst in den 1970er Jahren wurde dieses Phänomen im Segelsport am Bodensee noch mit "überall Platz und Weite" positiv hervorgehoben. Dies entsprach durchaus der auch sonst weiträumigen Einstellung der Oberschicht und machte den Segelsport attraktiv. Die räumliche Distanz auf dem Wasser erlaubt den Mitgliedern der Oberschicht auch ihren häufig niedrigen Intoleranzschwellen gegenüber der natürlichen und sozialen Umwelt zu ertragen. Besonders scheint dies gegenüber Lärm, Enge sowie physischer und verbaler Gewalt zu gelten. Diese Distanz wird sogar im Clubhaus und Yachthafen sichtbar, die abgetrennt von allem ein besonders diskretes Umfeld bieten.

Ferner legt der Segelsport, mit seinen weit auf dem Wasser verteilten und vom Land entfernten Booten, bereits auf den ersten Blick eine soziale Distanz zum Rest der Bevölkerung deutlich offen. Durch die geographische Distanz zwischen aktivem Segler und passivem Zuschauer wird im wahrsten Sinne des Wortes die Exklusivität dieser Sportart demonstriert. Das Nichtmitglied - der Betrachter - ist, für alle sofort erkennbar, geographisch vom Geschehen 'getrennt' und 'ausgeschlossen'.

Diese Distanz scheint ähnlich wie die ganzkörperverdeckende Kleidung mit einer bestimmten "'Gesinnung'" einherzugehen: "Man schirmte sich gegen Blicke, Neugierde, möglicherweise auch gegen Fragen, kurzum gegen außen ab. Dahinter läßt sich eine soziale Beziehungsform vermuten, die mit Begriffen wie Vornehmheit, Vorsichtigkeit, Zurückhaltung, Selbstkontrolle und ähnlichen zu charakterisieren ist. Hierin sieht Musil eine Gegenbewegung zur um sich greifenden gesellschaftlichen Öffnung des Individuums und der Gruppe, wie sie in anderen Sportbereichen seiner Zeit bereits erkennbar war." Daß die Segler durchaus dieses Motiv hatten, wird an zahlreichen Äußerungen aus den letzten hundert Jahren erkenntlich: "Als eine leichte Briese aufkam, entzogen wir uns schleunigst den Schaulustigen."

Die Distanz spiegelte sich ebenso in der indirekten Art der Ausübung des Sports durch den Segler. Tennis, Ski, Golf, Hockey und Fechten werden ebenfalls mit dem 'Status-Stock' betrieben, der von vornherein eine gewisse Distanz schafft und zumindest früher typisch für die Oberschicht war. Ähnlich wurde bereits vor dem Ersten Weltkrieg die Pinne als "Rohr" bezeichnet, und selbst das Steuerrad auf großen Yachten ließ einen mit dem Boot und dem Wasser nur indirekt in Berührung kommen.

Parallel zu dieser äußeren räumlichen Distanz verläuft eine innere, mentale der Segler zu ihrem Sport oder wird zumindest postuliert. Die "im bürgerlichen Rollenverhalten implizierte "Rollendistanz"", welche im Regattasegeln so deutlich hervortritt, wird ermöglicht durch den "Kult des fair-play, jene Art, das Spiel derer zu spielen, die genug "Herr über sich selbst" sind, um sich nicht dermaßen dem Spiel zu verschreiben, daß sie am Ende vergessen, daß sie spielen". Aufgrund der räumlichen Trennung der Bootsbesatzungen bei Wettfahrten - jeder muß zwangsläufig auf seinem Schiff bleiben - wird physische Gewalt, sogar jeder direkte Kontakt unmöglich und, bei größerer Entfernung der Boote, selbst verbale Gewalt ad absurdum geführt. "Sportlicher Austausch gewinnt hier das Aussehen eines höchst gesitteten gesellschaftlichen Verkehrs". Dies paßt sehr gut zu den Eigenschaften der bürgerlichen Oberschicht. Zumindest oberflächlich mußte man ruhig, gelassen und kaltblütig erscheinen. Das bürgerliche Erziehungsideal verbot im letzten Jahrhundert, Triebe, Passionen oder Affekte ungeläutert an die Oberfläche treten zu lassen. Besonders Segeln bewirkt, durch die Distanz, beim Betrachter den Eindruck der Affektkontrolle und Selbstdisziplin.

Neben diesen großen Motivkomplexen Geld, Zeit, Natur, Abenteuer, Distanz, Friede, Ruhe, Bildung, finden sich noch zahlreiche weitere Gründe, welche den Segelsport gegen Ende des 19. Jahrhunderts förderten: Sehnsucht, Fernweh, Wärme, Fluchtort vor der Zivilisation, Ausgleich, Entspannung. Daneben Einfachheit, Wahrheit, Klarheit, Wahrhaftigkeit, Echtheit, Ehrlichkeit, Treue, soziales Vertrauen, Beständigkeit, Stetigkeit, Ursprünglichkeit - letztendlich das Überschaubare und Unkomplizierte. Bis heute blieb der Begriff Segeln ein weitgehend frei semantisierbarer Raum, eine Projektionsfläche für die Wünsche und Träume der Gesellschaft. Daß dieser Sport von der Oberschicht des 19. Jahrhunderts gewählt wurde, belegt, daß viele dieser Motive dem Habitus jener Schicht sehr entgegenkamen. - Aber Segeln war kein passiver Eskapismus, sondern wurde als Freiraum zu aktiven Entwicklung politischer Ideale genutzt.

7. Die Gesellschaftlichkeit

A. Die Segler als eigene Gesellschaft

Wenn der Segelsport keine Funktion ausübte, also keinen Zweck hatte - da man sich in genau diesem Punkt von der Unterschicht distanzierte -, so hatte er doch einen Sinn. Dieser Bestand in der Gesellschaftlichkeit.

Obwohl seit dem letzten Jahrhundert tausende von Vereinen entstanden, erstaunt, wie oberflächlich die Gründungsmotive bisher im Detail untersucht wurden, und wie gering die Aussagekraft der Analysen hierzu ist. Während man kleine Segelcrews noch als eine weitgehend private Sphäre kennzeichnen kann, wird dies bei Vereinen unmöglich. Bei derartigen Organisationen handelt es sich bereits um Großgruppen, welche ein deutlich formalisiertes Sozialgebilde darstellen; "Organisationen sind Instrumente zur Realisierung verallgemeinerter Zielsetzungen" und dienen besonders der Darstellung der gemeinsamen Ziele nach außen. - Vereine hatten in Deutschland bereits eine Tradition bevor die ersten Segelclubs gegründet wurden. So gab es am Bodensee schon früher Bürgervereine. Es waren "freiwillige Zusammenkünfte freier Bürger", welche unter anderem Bildung durch Gespräch und Lesen anstrebten. Wegbereiter und Gründer der Vereine waren meist Angehörige der sozialen Ober- und Mittelschicht, hauptsächlich aus dem urbanen Bereich.

Vereine besitzen eine bewußt geplante Organisationsstruktur, die von den Mitgliedern als freiwillige soziale Organisation errichtet wurde. Sie haben im Segelsport die Förderung dieses Sports - zumindest als Kernzweck. Bewegung, Spiel, Leistung und Gesundheit werden normalerweise als Elemente des Sports gesehen. Die gemeinsame Ausübung des Segelsports von Personen, welche sich allein kein eigenes Segelboot leisten können, war oft ein - aber keineswegs das einzige - Motiv für die Gründung eines Segelclubs.

Sportvereine haben neben den anderen Sozialisationsträgern wie etwa der Familie, peer groups (Freunde), der Schule oder dem Militär ebenfalls eine gemeinschaftsbildende Funktion. "Sportgruppen und -cliquen, Sportmannschaften und Vereine, also informelle und formelle Gruppierungen, bedeuten für den einzelnen Sporttreibenden eine Möglichkeit sozialer Integration, einen Raum sozialer Anerkennung und Sicherung". Besonders die Kleingruppe im Sport ermöglicht, daß jeder mit jedem interagieren und kommunizieren kann. Ein intensiver sozialer Beziehungsaustausch ist möglich, ein Wir-Gefühl, eine Gruppenidentität leicht herstellbar.

Der Verein ist somit eine rechtlich konstituierte soziale Gruppe mit Zielen, die jedoch im Segeln vor dem Ersten Weltkrieg nicht immer rein sportlich im modernen Sinn waren. Insbesondere im Segelsport kam noch ein weiteres Element hinzu: die Gesellschaftlichkeit. - Wie wichtig diese zweite Komponente des Gesellschaftlichen für den LSC bis zum Ersten Weltkrieg war, zeigt sich an Aussagen, daß man damals "sportlich wie gesellschaftlich so wundervolle Tage" verbrachte. Ferner schreiben Satzungen meist nicht nur die Interessen einer Gruppe fest, sondern oft auch einen spezifischen Verhaltenskodex vor. Und vor dem Ersten Weltkrieg waren im Vereinszweck "gesellschaftliche Zusammenkünfte" ausdrücklich aufgeführt. - Allgemein wurde bisher behauptet: "Sport ist (und wird) als Betätigungsfeld aufgefaßt, das bewußt neben der gesellschaftlichen Realität steht bzw. stehen soll, wobei paradoxerweise der Sport genau das jeweilige System und seine soziale Strukturen widerspiegelt." Für den Segelsport kann dies so nicht akzeptiert werden. Weder war der Segelsport je das direkte Spiegelbild noch war er selbständig. Das Verhältnis der Gesellschaftlichkeit im Segelsport zur Gesellschaft des Staates war wesentlich komplexer.

Der YCK führte z.B. auch Picknickfahrten und Feste in weniger angesehenen Lokalen unter seinen gesellschaftlichen Ereignissen. Man "beschließt, das Absegeln in der Bucht abzuhalten mit dem Waldhaus Jakob als Stützpunkt für den gesellschaftlichen Teil." Auch einen regelmäßigen "Gesellschaftsabend" führten alle Segelclubs am Bodensee vor dem Ersten Weltkrieg durch.

Einer der herausragenden schweizer Segler der 'Gründergeneration' am Bodensee schrieb noch 1992: "Das Clubleben wird stets sehr reichhaltig und interessant gestaltet und umfasst einen sportlichen und einen gesellschaftlichen Teil." Der Unterschied zwischen einem geselligen und einem gesellschaftlichen Abend oder Veranstaltung liegt darin, daß bei dem gesellschaftlichen auch heute noch die internen Bindungen wesentlich enger sind.

'Gesellschaftlich' muß somit deutlich von 'gesellig' abgegrenzt werden. Letzteres gab und gibt es auch in allen anderen Vereinen (nicht nur Sportvereinen). Im Segelsport kam jedoch ein eindeutig sozialpolitisch elitäres Denken und Handeln hinzu. Auch ist damit nicht nur feierlich und in gediegener Kleidung gemeint. Selbst lange nach dem Zweiten Weltkrieg sprachen auch die deutschen Segler noch über die "gesellschaftliche Seite" und meinten hiermit etwa das An- oder Absegeln. Gesellschaftlichkeit im Segelsport zielte auf das starke Zusammengehörigkeitsgefühl aufgrund eines elitären Bewußtseins, exemplifiziert an einem exklusiven Hobby. Politisch geformt wurde es durch die liberale Gesinnung der Mitglieder aus der Oberschicht und die äußeren politischen Umstände der undemokratischen Landgesellschaft. Im Prinzip war die Gesellschaftlichkeit in den Augen vieler Segler damals eine Art Staats- und Lebensphilosophie.

7.B. Das "Staatswesen" der Segler

a. Satzungen

Auch staatsähnliche Strukturen wurden in den Segelclubs aufgebaut. Weil der Landstaat ihnen die Beteiligung an der Gesetzgebung verwehrte, und sie diese Landstruktur keinesfalls übernehmen wollten, suchten sie eine neue Gesetzesgrundlage. Um ein Chaos zu vermeiden und eine bürgerliche Ordnung im Club zu schaffen, orientierte man sich am hehren Ideal der Fairness.

Die Satzung eines Vereins entsprach durchaus der Verfassung eines Staates und die Geschäftsordnung, Rennvorschriften und clubinternen Ordnungen den Gesetzen und Vorschriften.

Mit den aus eigenen Wahlen hervorgegangenen Vorständen verfügten die organisierten Segler ferner über eine demokratische 'Regierung', welche nicht nur 'Innen-', sondern in den Beziehungen zu anderen Vereinen und Behörden auch eine 'Außenpolitik' trieb, die man mit eigenen Pressesprechern und Publikationen darstellte. Mit den Dachverbänden verfügte der Segelsport über durchaus den politischen Staatenbündnissen der damaligen Zeit vergleichbare nationale und internationale Organisationen.

Hier zeigt sich auch das Demokratieverständnis der Liberalen. Mehrheitsbeschlüsse wurden genau geregelt und für viele Beschlüsse waren sogar qualifizierende Mehrheiten erforderlich. Ferner mußte für die Gültigkeit eines Beschlusses eine bestimmte Anzahl der Mitglieder anwesend sein. Vor dem Ersten Weltkrieg wurde jedoch häufig Einstimmigkeit erstrebt. Dieses übersteigerte Demokratieverständnis zeigt sich bis heute beim internationalen Bodensee-Segler-Verband, bei dessen Beschlüssen sogar eine Majorisierung verhindert wird. So muß in jeder nationalen Untergruppe ebenfalls jeweils eine Mehrheit für den Antrag stimmen, damit er akzeptiert wird. Dies obwohl die sechs österreichischen Clubs 22 schweizerischen und 66 deutschen gegenüberstehen.

Die Segler richteten mit den Ältesten- und Ehrenräten sowie den Clubvorständen sogar eine eigene Gerichtsbarkeit ein und lehnten gleichzeitig die äußere staatliche Gerichtsbarkeit per Satzung ab.

Dieses Staatsbild korrespondierte ferner mit der liberalen Einstellung des einzelnen Mitglieds: Als man dem 1. Vorsitzenden des Yachtclubs Konstanz vorhielt, er würde eine Mißgunst gegen den württembergischen Club hegen, stellte dieser die politische Sichtweise eines jeden überzeugten Seglers dar: "In meiner persönlichen Stellungnahme bekämpfte ich stets und werde auch fernerhin in gegebenen Fällen bekämpfen, lediglich einen jeden Schritt, der die Gefahr in sich birgt, daß innerhalb unserer Verbände ein Verein oder Glieder desselben eine gewisse Vorherrschaft, oder: wie soll ich sagen, (eine Art Oberstellung erlangt oder erstrebt), sei es mit oder ohne Wissen oder Gefühl dafür, und zwar im Interesse echter und edler Verbandskameradschaft und gerechter Gleichbewertung und Gleichberechtigung."

Wenn man zulässigerweise für 'Verband' 'Verein' und für 'Verein' 'Einzelmitglied' liest - also den Makrokosmos auf den Mikrokosmos überträgt -, so erhält man die Einstellung der damaligen Segler über die Verhaltensweise im Segelclub. Mit allen Mitteln wurde einem absoluten Gleichheitsstreben - einer überspitzten demokratischen Regierungsform, welche jegliche Dominanz einzelner zu verhindern suchte, - gehuldigt. Allerdings geschah dies nicht aus der Erkenntnis der Werte der Demokratie an sich, sondern eher aus der Angst des Verlustes der individuellen Freiheit und Stellung. Dies wiederum läßt sich zu einem guten Teil aus den Umbrüchen der Zeit erklären, welche besonders die Oberschichten - zumindest aus deren Sicht - bedrohten und verunsicherten. Allerdings widersprach dieses Demokratiestreben der gleichzeitig praktizierten Hierarchisierung der Mitglieder, weshalb es auch ständig zu Spannungen kam.

Trotz dieser staatlichen Institutionen fehlte eine, die sonst typisch war für reine Sportarten: der Schiedsrichter! Nicht nur damals ging man davon aus, daß ein Gentleman - und nur ein solcher konnte ein Segler sein - bei eventuellen Verstößen selbstverständlich selbst die Konsequenzen zieht. Das Rechtssystem basierte somit im Grunde auf einer auf Ehre fußenden Überspitzung der Magna Charta. Nicht einmal gleichgestellte durften ein Individuum aburteilen, nur dieses selbst. - Der Segler als nächster nach Gott.

Daß die Satzungen und Geschäftsordnungen noch relativ kurz waren, deutet einerseits auf die Ideologiegrundlage der Fairness und des Gentleman hin, die man jedem Mitglied attestierte, andererseits auch darauf, daß die damaligen Mitglieder dies nicht nur postulierten, sondern zu einem großen Teil auch lebten. So ist es auffällig, daß selbst große und mitgliederstarke Vereine und Vereinszusammenschlüsse nur wenige Vorstandssitzungen im Jahr abhalten mußten.

Staatsgebiet

Ferner sahen sie das Wasser und besonders ihren Hafen als ihr Staatsgebiet an, das man einzäunte und, wenn es sein mußte, mit aus Mitgliedern bestehenden 'militärischen' Schiffs- und Hafenwachen mit allen Kräften nach außen verteidigte. Als ihr erweitertes Staatsgebiet sahen die Segler immer die Wasserfläche. Das wurde am Bodensee durch die unklare Kondominiumsregelung sogar noch verstärkt. Jedem rechtlichen Zugriff auf dieses private 'Staatsgebiet' durch einen Nationalstaat z.B. durch Gesetze oder Vorschriften traten die in Segelclubs organisierten Segler immer vehement entgegen.

b. Yachtgebräuche

Die Förmlichkeit wurde im Segelsport bei den Yachtgebräuchen auf die Spitze getrieben: "Worin wir Segler jedoch für uns vornehmlich des Sporn zu suchen haben, äusserlich und innerlich jederzeit tadellos aufzutreten, das ist der Umstand, dass eine Yacht überall dort, wohin sie kommt, besonders aber in ausländischen Häfen, durch ihre blosse Erscheinung schon r e p r ä s e n t i e r t. Sie erregt an und für sich A u f s e h e n, dieses überträgt sich naturgemäss auch auf die Leute an Bord: es ist also an uns, durch unsere Yacht und durch unser Benehmen stets derart für die Ehre der deutschen Flagge, des deutschen Segelsports und des Clubstanders einzutreten, dass wir nie über uns oder über Landsleute zu erröten brauchen, und so aufzutreten, dass wir den Fremden Achtung abnötigen, nicht aber durch auffälliges oder unpassendes Gebaren ein spöttisches oder bedauerndes Achselzucken hervorrufen. Wenn überhaupt im Leben vom Erhabenen zum Lächerlichen nur ein Schritt ist, so ist im Yachtsport dieser Schritt ziemlich klein; ein geringes Zuviel oder Zuwenig schon kann den männlichen, edlen Sport zur unwürdigen kindischen Spielerei herabdrücken; nicht in der G r ö s s e der Yacht liegt dieses Mass begründet, sondern in dem A e u s s e r e n derselben und in dem T o n an Bord."

Yacht und Vaterland, sowie vor allem Nationalflagge und Clubstander wurden gleichgesetzt. Ein Sportsegler wurde zum Würdenträger im quasi auswärtigen Dienst, der den Staat repräsentierte. 'Richtiges' Verhalten war Ehrensache. - Weiter konnte man seinen neuen Sport nicht überhöhen. Allerdings wird auch sichtbar, für wie ungefestigt die Segler ihren Sport noch hielten. Selbst Ende des 19. Jahrhunderts und trotz zunehmender adliger Protektion war das Postulat des 'männlichen, edlen Sports' noch nicht etabliert, einige sahen in ihm noch eine 'unwürdige kindische Spielerei'. Die äußeren, nachteiligen Umstände verstärkten somit jene interne Übersteigerung. - Dieses Verhalten war keinesfalls nur auf Deutschland beschränkt. Der in der Schweiz für den guten Ton beziehungsweise die Yachtgebräuche benutzte Ausdruck 'Comment' sagt wesentlich treffender, daß es auf das 'Wie' der Sportausübung ankam.

Praktische Bedeutung bei den Yachtgebräuchen erlangte besonders die Steuerbordseite, welche als die vornehme Seite galt, an der auch Beiboote an der Yacht anzulegen hatten. Der Steuerbordbug wurde sogar als "Gentleman-Bug" bezeichnet, weil man, falls man die Segel dort fuhr, jedem anderen Segelboot wie ein Gentleman auszuweichen hatte.

c. Flaggen

Den größten Aufwand trieben die Segler jedoch mit einem Detail, das der Laie - mangels jeglichen Verständnisses für die Wichtigkeit - als Fahne bezeichnet. Bei den Fahnen unterschieden die Segler bis heute die viereckige Flagge, den dreieckigen Wimpel, den ausgezackten Stander, Doppelstander (Flaggen, die in zwei Spitzen auslaufen) sowie den dreieckigen und kurzen Hilfsstander. Stander heißt jedoch auch die dreieckige kleine Clubflagge. Um die Jahrhundertwende waren sowohl die Größen der Flaggen als auch die Seitenverhältnisse für Segelclubstander noch beliebig. Ende des letzten Jahrhunderts führten die Eigner von Segelbooten ferner noch eigene viereckige Rennflaggen oder Regattaflaggen und trugen, wie bei den Adligen wappenartige Symbole. Zum präzisen führen und Verstehen der vielen Flaggen und Kombinationen wurden im 19. Jahrhundert das internationale Signalbuch eingeführt. Für die Führung der Flaggen war sogar ein Flaggenschein notwendig.

Bei den 'Yachtgebräuchen' handelte es sich überwiegend um komplizierte Flaggenbedienungen. Bereits um die Jahrhundertwende hatte der DSV neun Paragraphen zur Flaggenführung erlassen. So wurde im Hafen z.B. die Nationale am Heck gesetzt. Unter Segel hing dies jedoch bereits von der Takelung ab. Während die meisten Yachten sie an der Großgaffel trugen, mußten yawl- und ketchgetakelte Yachten sie am Besanmast führen. Der Clubstander des Schiffsführers - nicht der Yacht - mußte im Top wehen. Bei Mitgliedschaften in mehreren Vereinen mußte jeweils der zum anzulaufenden Hafen passende Stander gesetzt werden. Die Flaggenordnung am Bodensee listete 1912 u.a. noch die Geburts- und Namenstage der adligen Herrscher auf, an denen Flaggengala beziehungsweise zumindest Toppflaggen zu fahren waren.

Zum 1. Januar 1934 trat ein neues internationales Signalbuch in Kraft, weil man zahlreiche Dinge geändert hatte. Zu den 26 Buchstabenflaggen kamen 10 Zahlenwimpel und drei Hilfsstander hinzu. Diese erheblichen Änderungen scheinen bei den Seglern zu einer Reduzierung des Interesses daran geführt zu haben. Da man allein von den 26 Buchstabenflaggen bis zu vier kombinieren durfte, ergaben sich 358.800 Signalmöglichkeiten (ohne Hilfsstander!). Die für die Sportsegler wichtigsten Zeichen (ca. über 3.500) listete 1933 'Das Kleine Signalbuch' auf 56 Seiten im Kleindruck auf.

Wichtig war im Segelsport besonders die Entwicklungsgeschichte der Clubstander. Die Vereinsflagge - der dreieckige Clubstander - hatte z.B. beim 'Norddeutschen Regatta-Verein' ursprünglich eine besondere Bedeutung. Der Stander wurde erst 1875 eingeführt, damit die darunter segelnden Yachten in Hamburg die Zollfreiheit erhielten. Im BSC besaß jedes Segelboot um die Jahrhundertwende eine eigene Flagge, damit man dieses mit dem entsprechenden Flaggensignal von Land aus zurückrufen konnte. Diese sehr pragmatischen Zwecke gerieten später jedoch allgemein in Vergessenheit und der Stander wurde bald zum verklärten Symbol der Segelclubs.

Der KWYC in Friedrichshafen erhielt per Kabinettsordre vom 6. Juli 1913 die Landesflagge mit dem Stammwappen des Hauses Württemberg als Clubflagge. Wie sehr man auf dieses äußere Zeichen Wert legte, macht die Dankesrede des Vorsitzenden deutlich: "Mit Stolz und Freude haben wir sie aus der Hand des Königs empfangen als ein Unterpfand des warmen Interesses unseres Allerhöchsten Kommodores an dem Ergehen unseres Clubs, als ein Kleinod, das wir allezeit heilig halten werden, das uns mahnen soll zu mannhafter Tat, zu ernster Arbeit, zu treuer Pflichterfüllung." Die Flagge und der Segelsport waren für diese Mitglieder weit mehr als nur eine Freizeitbeschäftigung. Wie gegenüber einem Staat sprachen die Segler von 'mannhafter Tat', 'ernster Arbeit' und 'treuer Pflichterfüllung' für das Segeln und besonders ihren Club.

Die Symbole in den Standern waren damals auch oft bezeichnend. Im Stander des BSC fanden sich in den 20er Jahren z.B. zwei goldene Lorbeerzweige, als Zeichen für Ruhm und Ehre. Der "Stander mit dem Hoheitszeichen unseres Clubs" wurde von den damaligen Seglern als Symbol wie die nationale Flagge gesehen. Einen Clubstander durfte man deshalb nur fahren, wenn man ein Standerzertifikat besaß. Dieses wiederum erhält man bis heute erst, wenn das Wasserfahrzeug im Yachtregister des Clubs aufgenommen wurde. Hierzu muß eine Stander- oder Eintragungsgebühr entrichtet werden. Das Standerzertifikat kostete in Konstanz vor dem Ersten Weltkrieg 5 Mark. Man ließ sich seine eigenstaatliche Exklusivität folglich einiges kosten. Die Zertifikate haben ferner nur persönliche Gültigkeit und verfallen beim Verkauf des Boots. - Das Finden des geeigneten Symbols wurde in vielen Segelclubs zu einer langwierigen Prozedur. Wie wichtig diese Angelegenheit auch noch nach dem Zweiten Weltkrieg war, sieht man z.B. am 'St. Gallischen Yacht-Club'. Hier mußte bei der Namensänderung 1957 ein neuer Stander entworfen werden. Es wurden 78 Entwürfe beraten bis man sich 1958 auf einen einigte. Wie politisch manche Flaggen waren, zeigt sich nicht zuletzt auch am Bodensee-Segler-Verband der vor dem Ersten Weltkrieg angeblich sogar eine schwarz-rot-goldene für sich auswählte.

Allerdings wurden neben diesen theoretisch noch heute gültigen Regeln auch auf den ersten Blick nebensächliche - für die Oberschicht jedoch bezeichnende Details geregelt. Die 'Yachtgebräuche' des DSV hielten vor dem Ersten Weltkrieg fest: "Im Hafen oder vor anker liegende Yachten können eine kleine Flagge an der Nock der Saling heissen. Es bedeutet eine blaue rechteckige Flagge an der Steuerbord-Grosssaling: 'Eigner nicht an Bord'; eine weisse Flagge an derselben Stelle: 'Der Eigner nimmt seine Mahlzeit ein'." Diese weiße rechteckige Flagge wurde am Bodensee noch in den 1970er Jahren auch "'Dinner'-Flagge" genannt. "Der Eigner möchte nicht gestört werden".

Daß es manche Segler mit der Zeremonie etwas übertrieben, deutet sich in Hinweisen des Deutschen Segler-Verbandes um 1900 an, der darauf aufmerksam machte, daß zur Begrüßung das Dippen der Nationale am Ankerplatz oder Hafen vollkommen ausreicht. "Salutieren mit Böllern ist nicht gebräuchlich." Zumindest vor der Jahrhundertwende war dies bei der Hafeneinfahrt am Bodensee durchaus üblich, wozu man auch eine Schiffskanone an Bord mitführte. Bei Regatten wurde ähnliches Verhalten auch von Land aus praktiziert, wie bei einem Staatsbesuch fremder Würdenträger.

Der Deutsche Segler-Verband erhielt seine eigene Flagge vom Kaiser 1914 verliehen. Dies betrachtete man damals als höchste Ehre, weil es ein Zeichen dafür war, von staatlicher Seite endlich ernst genommen zu werden. Besonders an der Verbandsflagge läßt sich auch zeigen, wie Tradition bei den Seglern entsteht. Wenige Tage vor Kriegsausbruch noch vom Kaiser verliehen, wurde sie bereits 15 Jahre später (1929) als uralter Gegenstand betrachtet, den man angeblich bereits seit der DSV-Gründung (1888) besaß: "In der Verbandsflagge erblicken die deutschen Segler lediglich ein gemeinsames, alt eingeführtes Abzeichen, unter dessen Farben seit vier Jahrzehnten sich die sportlichen Kämpfe des Verbandes im In- und Ausland ehrenvoll abgespielt haben."

d. Hymnen

Als weiteres Zeichen der Staatsbildung müssen die Hymnen angesehen werden, wie etwa die 'Hymne' des GBYC. In anderen Segelclubs wurden damals noch ernsthafter Flaggenlieder als eigene 'Nationalhymne' verfaßt. So findet sich in der Kaiserzeit ein "Flaggenlied des Flensburger Segelklubs, Melodie: 'Deutschland, Deutschland über alles'", "Flaggenlied des Alster-Yachtklubs, Melodie: 'Wir halten fest und treu zusammen'", Flaggenlied des SVAÖ, oder auch in allgemeinen Seglerliedern wie "'Dem Segeln unsre Treue!', Melodie: O wonnevolle Jugendzeit". In allen diesen Hymnen auf den Segelsport oder den eigenen Segelclub wurde der Zusammenhalt und die Einigkeit gepriesen. Der Bregenzer Segel-Club ließ sich sogar einen eigenen Marsch komponieren.

e. Volk

Wie sehr man der eigenen Staatsbildungsthese anhing, zeigte sich auch später. Noch 1986 sprachen ältere organisierte Bodenseesegler von ihrem "Seglervolk".

Es fiel ihnen bisher jedoch schwer, die Anforderungen genau zu spezifizieren. Dies war immer mit ein Grund, warum die Anforderungen der Satzungen auf Mitgliedschaft so vage wirkten.

f. Mitglieder

Man besaß in seinen Mitgliedern ein eigenes - im wahrsten Sinne des Wortes - 'ausgewähltes' 'Volk'.

Der bedeutendste Club in Kiel legte 1891 fest: "Jedermann kann Mitglied des Kaiserlichen Yacht Clubs werden, er muß nur ein Gentleman sein". Daß man durchaus eine ehrenwerte Gesellschaft gründen wollte, wird am Yacht-Club Konstanz ersichtlich. Zumindest nach außen hin mußten die Mitglieder einen absolut untadeligen Lebenswandel zeigen. 1910 wurde dort sogar ein Gründungsmitglied ausgeschlossen, weil bekannt wurde, daß es an Land eine Strafe wegen eines relativ unbedeutenden Steuervergehens bezahlen mußte. Dies war jedoch die Ausnahme. Ansonsten traten zahlreiche Mitglieder lieber freiwillig aus. Hier verdeutlicht sich die Umkehrung des damaligen seglerischen Grundsatzes: Wer kein Gentleman war, war automatisch auch kein Segler! Mit der Sportausübung selbst hatte dies nichts zu tun. Dieses gesellschaftliche und elitäre Verhalten bezog sich übrigens keineswegs nur auf Deutschland oder den Bodensee. Selbst über J.P. Morgan sagte man, er sei "'willing to do business with anybody, but to sail only with gentlemen.'"

Noch Ende der 1970er Jahre schrieb einer der Bodenseesegler, der die Segelszene über Jahrzehnte hinweg am besten kannte: "Das Segeln gehört zum Elementarsten in unserer Welt, nirgends mehr gibt sich der Mensch so der Natur hin, dem Winde ausgeliefert, der Stille - dem Sturm, dem Wasser, eine reine Welt ist sein Ziel, leise und ohne Gewalt!" Diese 'reine Welt' versuchten sich die Segler in ihrer Segelgesellschaft zu schaffen. Mit 'rein' meinte man vor dem Ersten Weltkrieg jedoch auch politisch und sozial 'rein', Arbeiter wollte man nicht. Noch nach dem Zweiten Weltkrieg sah man in den USA die exklusive Abgeschlossenheit: "social considerations, rather than one's interest in yachting, are the basis for selecting prospective members." Grundsätzlich handelte es sich bei den Mitgliedern überwiegend um die jeweilige Oberschicht. Aber die Auslese war noch feiner. Es waren nur 'bessere Herren' in den Segelclubs. Durch die strengen Aufnahmebestimmungen waren die Mitglieder quasi 'handverlesen'. Dadurch erreichte man eine, von allen in der tatsächlichen Alltagsgesellschaft vorhandenen und unerwünschten Elementen purifizierte, ideale Gesellschaft.

Daß man elitär und unter sich bleiben wollte, wurde durch einen üblichen Zusatz auch am Bodensee festgelegt: "Ruderführung nur von Herren, die Mitglieder eines anerkannten Segelklubs sind." Damit waren alle nichtorganisierten Segler von Wettfahrten ausgeschlossen. Man betrachtete die anderen noch nicht einmal als Menschen. Wie die organisierten Herrensegler über die angeheuerten Mannschaften dachten wird bereits an dem Ausdruck 'bezahlte Hände' deutlich. Selbst die Zulassungsbestimmungen für die 'Sonderklasse' waren eindeutig: "Die Mannschaft [darf aus] drei Herren bestehen, welche Amateure sowie Mitglieder eines anerkannten europäischen Yacht-Clubs sein müssen, ihren Lebensunterhalt nicht durch ihrer Hände Arbeit verdienen und dem Lande angehören, in welchem die Yacht erbaut ist." Dieser als Amateurparagraph bekannte Passus fand sich im deutschen Wassersport bereits seit 1883 und wurde am Bodensee lange für Wettfahrten benutzt.

"Der allgemeine Verfall des Statusgefühls in der modernen Gesellschaft" wurde bereits vor der Jahrhundertwende festgestellt. Demgegenüber kann die extreme Hierarchisierung der Mitgliedertypen im Segelclub als Gegenbewegung verstanden werden. Mit den verschiedenen Strukturen im Segelclub vom Kommodore über Vicekommodore, die Ehrenvorsitzenden, Ehrenmitgliedern, lebenslänglichen, aktiven, ordentlichen, passiven, unterstützenden bis hin zu den außerordentlichen Mitgliedern wurden Rang und Stand demonstriert - quasi eine ständische Gesellschaft wiederhergestellt, zu einer Zeit als sie sich im Staat selbst zunehmend auflöste.

Man besaß ferner einen aus gestaffelten Mitgliedsbeiträgen, die den staatlichen Steuern entsprachen finanzierten eigenen Haushalt.

Die zahlreichen gesellschaftlichen Ereignisse hatten auch den Zweck, die auf dem Wasser als einzelne Individuen auftretenden Mitglieder zu einem Ganzen zusammenzufügen. "Solche Anlässe, glaube ich, dienen auch jedem einzelnen Mitglied dadurch, dass so eine Gelegenheit geschaffen wird, sich gegenseitig kennenzulernen und dass jeder einzelne das Gefühl hat, einer sportlichen Gemeinschaft anzugehören, die den Sinn und Zweck hat, das Segeln zu einem wahren Genusse zu gestalten dadurch, dass man gemeinsam wohl ein Ganzes leisten kann."

Diese Suche nach dem Ganzen und der Ganzheitlichkeit war den damaligen Individuen des Segelsports das Ziel ihrer ganzheitlichen Ausbildung. Gleichzeitig wollten sie sich auch individuell herausheben und auszeichnen. Es handelte sich bei der Gesellschaftlichkeit im Segelsport somit um die durchaus widersprüchliche Bildung einer Gesellschaft von Individualisten, wie sie - im gemeinsamen Touren- oder Regattasegeln sowie den Feiern - einerseits als klar definierbare Gruppe, andererseits wiederum als Individuen auf den einzelnen Booten in Erscheinung trat.

g. Eigene Welt

Im Übrigen postulierte man ein weitestgehend separates Leben. So finden sich oft die Gerüchte, daß später berühmte Segler seit ihrer Kindheit auf Booten lebten, von der schwangeren Mutter mitgesegelt oder sogar auf dem Boot geboren wurden. Diese seglerische Lebensspanne reichte bis zum Tod. Noch nach dem Zweiten Weltkrieg gab es für einen Segler kein schöneres Lebensende als an Bord seines Segelboots. Den absolut glänzendsten Abschluß einer Seglerkarriere fanden jedoch nur wenige: "Er starb an der Pinne seiner Yacht während einer Regatta". Und die Mitglieder stellen im NRV in Hamburg bis heute - wie bei Staatsbegräbnissen - sogar Ehrenwachen am Sarg eines verdienten Mitglieds.

Die Motivation für die Bildung nicht nur eines eigenen Staates, sondern einer ganzen eigenen Welt im Segelsport scheint eng mit dem Sportinstrument Segelboot zusammenzuhängen: "In der kleinen, abgeschlossenen Welt deiner Yacht bist du ein König: Du hast dein Reich (und deine Ruhe auch wenn die nächste Yacht nur 200 Meter neben dir segelt)." "Ein Schiff ... ist eine andere Welt, eine Welt für sich". Der Yachteigner sah sich damals "als nächster nach Gott". Noch Anfang der 1990er Jahren stellte man für den Bodensee fest: "'Geführt' wird das Schiff nach 'diktatorischen' Regeln durch den Kapitän (im Sportbootverkehr vom Schiffer oder Skipper) oder durch den Schiffsführer". Deshalb war Meuterei das verwerflichste Vergehen. Dies mag überholt klingen, galt jedoch noch Ende des 20. Jahrhunderts. Ein Mitglied kann noch heute aus der am Bodensee bestehenden GfS ausgeschlossen werden, wenn es "während eines Segeltörns gemeutert oder zur Meuterei angestiftet hat".

h. Frauen

Diese elitäre und individualistische Einstellung erlaubte es auch den Frauen, früh als Mitglieder in den organisierten Segelsport einzutreten. Die Geschichte der Frauen im Segelsport begann am Bodensee sogar bereits vor den ersten Vereinsgründungen. Spätestens seit den 1880er Jahren segelte die für ihre Zeit ungewöhnliche Konstanzerin Lilly Braumann-Honsell allein Jollen am Untersee. Sie ist die erste Frau, die sich als aktive Seglerin auf dem Bodensee nachweisen läßt.

Der als erster Segel-Club am Bodensee entstandene Lindauer Segler Club (1889) erließ im Jahr seiner Gründung zunächst das - damals überall übliche - Verbot: "Damen sind vom Clubboote ausgeschlossen." Dies wurde jedoch nicht durchgängig beachtet und 1897 wieder aufgehoben. Für die zahlreichen privaten Wasserfahrzeuge hatte es sowieso nie gegolten. Der größte Durchbruch wurde unerwartet vom sehr elitären Königlich-Württembergischen Yacht-Club in Friedrichshafen herbeigeführt, der kurz nach seiner Gründung 1911 in der Presse offiziell verlauten ließ, was damals am Bodensee bereits inoffiziell die Regel war: "Auch Damen sind als Mitglieder willkommen. Sie zahlen die gleichen Beiträge wie die Herren."

Im 1909 gegründeten Yachtclub Konstanz trat bereits 1911 ein "Fräulein aus Donaueschingen" als aktives Mitglied ein. Die Satzungsentwürfe 1912 für den Großherzoglich-Badischen Yacht-Club, den Zusammenschluß der Clubs in Konstanz, Überlingen, Radolfzell und Freiburg, sahen Bestimmungen über Damenmitglieder vor. In der endgültigen Satzung wurden die Damen nicht mehr als Sonderpunkt aufgeführt. Sie stellten für diesen Club Ende 1912 kein Problem mehr dar. Es ist auffällig, daß die Frauenproblematik in den Segel-Clubs am Bodensee danach in den schriftlichen Quellen kaum mehr eine Rolle spielte. Wenn sie überhaupt erwähnt wurde, dann meist im positiven Sinne, daß man Frauen gerne aufnehme.

Auffällig für den Segelsport, wie für manche andere Oberschichtensportart, war bis heute, daß ganze Familien als Mitglieder in den Clubs und besonders bei gesellschaftlichen Anlässen zu finden sind. In diesem gesellschaftlichen Sinne war der Segelsport am Bodensee bereits früh 'Familiensport'. Dies entsprach durchaus dem Habitus der Oberschichten und dem der ebenfalls auf die Familien konzentrierten Adligen.

i. Uniformen statt funktionaler Seglerbekleidung

Im Grunde würde man bei einem Sport eine detaillierte Auflistung der verschiedenen in ihrer Funktionalität ständig optimierten Seglerbekleidung erwarten. Daß dies nicht der Fall war, der Schwerpunkt der Bekleidung eher auf dem Clubanzug lag - also einem festlichen Kleid zur Repräsentation an Land - unterstreicht, daß es sich beim Segeln vor dem Ersten Weltkrieg im eigentlichen Sinne bei den meisten Mitgliedern kaum um einen Sport handelte, sondern die Betonung auf dem gesellschaftlichen Aspekt lag.

Bereits die Mitglieder der Tavernengesellschaft trugen zum Segeln vor der Mitte des 19. Jahrhunderts in Berlin besondere Kostüme. Am Bodensee gab es in den Anfangsjahren der ersten Segelclubs keine umfassenden Kleiderordnungen in den Satzungen. Viele Fotos zeigen allerdings eine äußerst unbequeme und damit korrekte Kleidung eines Gentleman mit dunklem Anzug, Weste, Jacke und Hut. 1889 wurde z.B. im LSC im Anzug mit Melone auf der Clubyacht gesegelt. 1894 finden sich Segler mit Weste und Fliege auf demselben Segelboot. Diese Seglerbekleidung entsprach meist dem damaligen Sonntagsrock, welcher noch vor der Jahrhundertwende hochgeschlossen war.

Erst 1891/92 erlaubten der Kaiserliche Yacht-Club sowie der Norddeutsche Regatta Verein ihren Mitgliedern, welche nicht im Militär dienten und somit keine Offiziersuniform tragen durften, eine Clubuniform. Bald scheint dies jedoch als Vorschrift aufgefaßt worden zu sein. Im NRV wurde besonders aufgrund der regen Kontakte zum Kaiserlichen Yacht-Club der Clubanzug mit Mütze eingeführt, und erst 1897 folgte dort der Diner-Anzug. Andere Clubs ahmten die ausführliche Kleiderordnung des Kaiserlichen Yacht-Clubs nach. Die Clubuniformen waren den militärischen Uniformen ähnlich, durften jedoch nicht identisch sein. Als Grundausrüstung galt eine Tuchmütze, ein zweireihiges vierknöpfiges Jackett, eine einreihige Weste und ein dunkelblaues Beinkleid. Besonders an Land wurde auf passende Uniformen Wert gelegt. Als Rangunterschiede innerhalb des Clubs dienten zuerst hauptsächlich die verschiedenfarbigen Knöpfe beziehungsweise die Stickereien an der Mütze.

Am Bodensee kam dies erst kurz vor dem Ersten Weltkrieg auf. Je höher die Segelclubs im Ansehen aufstiegen, und falls sie die Ehre eines adligen Protektorates erhielten, umso mehr mußte die äußere Form gewahrt werden. Auffälligstes Zeichen war hierbei die Kleidung. Es verwundert deshalb kaum, daß der KWYC in Friedrichshafen 1911 allein fünf Paragraphen für den Clubanzug in seine Satzung einfügte. Die darauf folgende Verbindung der westlichen Segelclubs zum ebenfalls geadelten GBYC sowie die anderen Segelclubs nahmen dies ebenfalls verstärkt auf.

Vor allem bei den gesellschaftlichen Veranstaltungen wurde am Bodensee peinlichst genau auf die angemessene Kleidung geachtet. So war für die "Begrüßung der Gäste und Konzert (Clubanzug)" vorgeschrieben, für das "Festessen und Ball im Insel=Hotel (Dinnerdreß bzw. Gesellschaftsanzug)" Beim Festessen bedeutete "Gesellschaftsanzug" "Frack", während "Gesellschaftsanzug" beim Herrenabend nur "Überrock" verlangte.

Neben weiteren Utensilien wie Stock, Handschuhen und besonderen Schuhen, wurde als auffälligstes Kennzeichen eine spezielle Yachtmütze getragen. Das Wichtigste an der Mütze waren für die Vereinsmitglieder die Mützenkokarden mit dem Clubemblem. Das Schild oberhalb war in Goldstickerei gearbeitet und zeigt das Symbol des Clubs. "Die Mütze trägt vorn einen Schild mit goldgesticktem Anker und den genannten goldgestickten Buchstaben." Mützenschilder gehörten neben Bootsstander auch am Bodensee für jeden Club zur Grundausstattung, welche man - trotz hoher Kosten - sofort nach der Gründung beschaffte.

Für einen Clubanzug, der nur zu ganz bestimmten Segleranlässen getragen werden durfte, gaben die damaligen Mitglieder enorme Summen aus. Durch eine spezielle Kleidung ließ sich im Segelsport Distanz demonstrieren und soziale Selbstdarstellung im Sport praktizieren. "Ganz ähnlich wie in der Tracht und dem kühnen Jagdgewand steckt auch in gewissen 'sportlichen' Kleidungsstücken der Anspruch der heldenhaften Vornehmheit. Der noble Mann und auch die noble Frau bedienen sich einer solchen Kleidung, um andere davon zu informieren, daß sie ihr Leben oder einen Teil davon danach ausgerichtet haben, einer ansonsten wenig nötigen oder wenig nützlichen Tätigkeit wie dem Sport nachzugehen." Im Segelsport ist diese Begründung jedoch nicht hinreichend, denn diese enorme Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Landkleidung erreichte bereits kurz vor dem Ersten Weltkrieg die höchste Form. Danach wurde der Aufwand dramatisch reduziert und ins sportliche gewendet. Ferner wurde mit einer Uniform der organisierte vom verachteten nichtorganisierten - oder wie man damals eher sagte, vom 'wilden', d.h. unzivilisierten Segler - unterschieden. Die Kleiderordnung vor dem Ersten Weltkrieg kann somit als die Spitze der Zivilisierung im organisierten Segelsport angesehen werden. Zivilisation war damals jedoch beinahe ein Synonym für ein modernes Staatswesen.

Diese Anzugsmentalität war jedoch nicht weltweit verbreitet. Die französischen Segler besaßen damals z.B. keinen Clubanzug, weshalb die geringere Bedeutung des gesellschaftlichen Clublebens dort vermutet werden kann. In anderen Ländern war sie nicht so ausgeprägt, so daß in Deutschland eine Extremform nachzuweisen ist.

j. Abzeichen und Orden

Hierzu fand sich eine weitere Abgrenzung. In jedem Segelclub gab es Clubabzeichen, Anstecknadeln, Kokarden etc. Im NRV erhielt jedes Mitglieder jedes Jahr sogar einen Silberknopf mit der erhaben geprägten Jahreszahl. Die Abzeichen und Orden im Segelclub sind, wie die staatlichen, einerseits eine Legitimation für den Träger und andererseits Ausdruck der Legitimität des Clubs. - Daneben gab es zahlreiche Plaketten und Pokale für die Segelwettfahrten. Denn die Ehre des Clubs wurde auch auf dem 'Felde' (genauer Wasser) der Regatten errungen und gewahrt, auf dem es die entsprechenden 'Siegestrophäen' zu 'erkämpfen' galt. Hierfür wurden die Sieger - in den Staatsakten nicht unähnlichen Feierlichkeiten - häufig zusätzlich mit 'Orden' und 'Ehren' belohnt.

Ähnlich wie der Staat, wollte man im Segelclub das Tragen der Ehrenabzeichen (Clubuniformen, Orden und selbst Clubabzeichen) wie staatliche Orden auch nur den Berechtigten und ihnen wiederum nur zu bestimmten feierlichen Staatsanlässen, d.h. in diesem Fall zu Seglertreffen, zugestehen. Man versuchte, Verstöße zu ahnden. Clubanzüge wurden nämlich auch bei nichtsportlichen Anlässen getragen, wodurch sich auf das Prestige der Clubs schließen läßt. Allerdings ist dies auch ein weiteres Anzeichen dafür, daß zahlreiche Clubmitglieder eher am Renommee als am Sport teilhaben wollten. Noch größere Entrüstung rief das Tragen der Clubabzeichen durch Frauen der Vereinsmitglieder als Schmuck hervor. Dieses 'Fehlverhalten' führte folglich in manchen Vereinen zu Satzungsänderungen, um derartigen Mißbrauch von Staatssymbolen zu unterbinden.

Der Yachtclub Konstanz legte deshalb 1910 bereits fest, daß ausgetretene Mitglieder ihre Clubabzeichen zurückzugeben hatten. In Konstanz erregten sich die Clubmitglieder sogar noch 1918 darüber, daß eine unbekannte Person es gewagt hatte, unberechtigt eine Clubmütze zu tragen. Um Mißbrauch vorzubeugen wurde den Mitgliedern zum Teil sogar die Bezugsfirma für Kleidungsteile und Mützen vorgeschrieben. Wie sehr die Segler ihre Symbole auch am Bodensee verehrten, zeigt sich an einem weiteren Zwischenfall. Als im Frühsommer 1914 ein Konstanzer Hersteller von Uniformmützen etc. mit Ladengeschäfts in seinem Schaufenster Club- und Mützenabzeichen des Großherzoglich Badischen Yachtclubs ausstellte, die er wesentlich preiswerter fertigen konnte als der Lieferant des GBYC, und dem Segelclub eine Offerte unterbreitete, wurde ihm sofort, unter Androhung rechtlicher Schritte, bereits das weitere Ausstellen dieser Clubsymbole untersagt.

8. Verteidigung der Gesellschaftlichkeit

Man kann dieses gesellschaftliche Moment in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts kaum überbewerten. Der Segelsport wurde vereinzelt von den Seglern sogar als Lebensschwerpunkt aufgefaßt. Die Gesellschaftlichkeit im Segelsport ging so weit, daß viele Segler außerhalb des Segelsports nur wenige Freunde besaßen, sich also fast überwiegend hierauf konzentrierten. Es verwundert deshalb nicht, daß besonders in den alten Segelclubs am Bodensee nach dem Zweiten Weltkrieg zahlreiche Mitglieder in irgendeiner Verwandschaftsbeziehung zueinander standen.

Bereits vor dem Ersten Weltkrieg besaßen die Segler eine fest umrissene Meinung über die wichtigste Angelegenheit im Leben eines überzeugten Seglers. Besonders deutlich wurde dies bei Regattaseglern. "Ich war vom Seewettfahren hoch befriedigt, mir ist aber doch nicht recht begreiflich, wie Jemand den ganzen Sommer von Regatta zu Regatta eilen kann. Bei der Kieler Woche lernt man allerlei Leute kennen, zum Teil aus Kreisen, mit denen der Gelehrte sonst nicht Fühlung gewinnt. Das ist ganz unterhaltend und manchmal stößt man auf drollige Lebensanschauungen. Die Frage von Herren, denen ich als Eigner des 'Nordstern' vorgestellt wurde, was ich denn eigentlich in meinem 'Nebenberuf' treibe, ist nicht selten. Einer, augenscheinlich ein echter Sportsmann, meinte auf meine Auskunft, daß ich Professor an der Universität sei, 'Ach, da haben sie ja mit Studenten zu tun, ist denn das nicht langweilig?!'"

Abgesehen davon, daß die meisten Segler damals keine Möglichkeit und kaum Gelegenheit zu einer weiteren Sportart besaßen, verspürten auch viele kein Bedürfnis zu einer weiteren schwerpunktmäßigen Betätigung außerhalb des Segelsports. Sicherlich hatten einige noch mindestens ein weiteres Hobby (nicht selten das Spielen eines Musikinstrumentes), aber es stand niemals auch nur annähernd auf selbem Niveau wie das Segeln oder es wurde mit diesem verknüpft (z.B. die Fotografie). Der Segelsport war für viele beherrschend in ihrem Leben - und sie waren nicht nur zufrieden damit, sondern glücklich. Man könnte somit die Gesellschaftlichkeit als die eigentliche "Segelphilosophie" bezeichnen. Nichts kennzeichnete den frühen Segelsport treffender.

Der Ausschluß und selbst nur der Austritt aus einem Segelclub hatte deshalb für den Betroffenen zu allen Zeiten schwerwiegende Konsequenzen, da sich die Segelclubs am Bodensee zumindest auf nationaler Ebene - selbst nach dem Zweiten Weltkrieg - untereinander absprachen. Eine Aufnahme in einen anderen Segelclub war somit nicht immer möglich. Ein Ausschluß aus der zivilisierten Seglergemeinschaft war durchaus mit dem Verlust der Staatsbürgerschaft zu vergleichen.

Die elitäre gesellschaftliche Abgrenzung der organisierten Segler gegen den Rest der Welt war umfassend. Noch Ende des 20. Jahrhunderts wurden Nichtsegler als das "gemeine(n) Landvolk" bezeichnet. Daneben fanden "Einhandyachten und Einzelsegeln" in Deutschland und am Bodensee vor dem Ersten Weltkrieg kaum Interesse. Einzelgänger waren den Segelclubs zutiefst suspekt. Denn durch die zelebrierte Gesellschaftlichkeit in den Segelclubs wurde das Segeln erst zivilisiert und kultiviert. Diese extreme Einstellung ging so weit, daß man im KWYC unorganisierten 'wilden' Seglern und anderen Wassersportlern sogar das Betreten des eigenen 'Staatsgebietes' - des Clubhafens - untersagte.

Noch härter ging man gegen interne Abweichler vor. Als die Überlinger Segler kurz vor dem Ersten Weltkrieg versuchten, sportliche Personen aufzunehmen, denen mehr am aktiven Segeln als am dominierenden gesellschaftlichen Element lag, kam es im Gesamtclub GBYC zu einem von vielen anderen Segelclubs mitgetragenen wütenden Verweis, der belegt, daß mit Sport im modernen Sinne die wahren Grundlagen der Segelclubs - die Gesellschaftlichkeit - gefährdet wurde. Selbst die bei der Aufnahmepraxis als großzügig angesehenen Freiburger Segler waren aufgebracht: "Was uns als Akademische Abteilung anbetrifft, so haben wir, wie ja unsere Statuten dies zum Ausdruck bringen, von Anfang an mit vollem Bewusstsein einen gewissen exclusiven Charakter betont. Auch unter den Studenten finden sich Leute zweiter und dritter Güte; die wollen wir nicht in unserer Abteilung haben und haben deshalb auch schon direkte Angebote um Aufnahme abgelehnt. Auch ich halte ganz in Ihrem Sinne eine allzu grosse Weitherzigkeit in Aufnahme und allzu grosse Sehnsucht nach möglichst viel Mitgliedern für gefahrvoll, unzweckmässig und für die Fortentwicklung unseres Yacht-Clubs nicht für zweckdienlich."

Der Vorsitzende der Abteilung Konstanz antwortete hierauf: "Ich freue mich sehr, daß sich in puncto Mitgliedschaft unsere Ansichten genau decken. Wir haben leider schon dadurch, daß wir uns aus bestehenden Yachtclubs zum Großherzoglich Badischen Yacht-Club zusammengeschlossen haben, eine Reihe von Elementen im Club, die besser nicht darin wären. Namentlich trifft dies bei Überlingen zu. Die neuen Abteilungen Freiburg und Radolfzell sind in dieser Sache glücklicher daran und können sich rein halten .... Das Schlimme ist ja meist die Tatsache, daß gerade solche Elemente oft die 'intrigierenden' Bestandteile einer Gemeinschaft sind, sei es offen oder im Geheimen. Nur ein hohes Eintrittsgeld trägt mit dazu bei, solche Leute fern zu halten und durch nicht zu niedrige Mitgliederbeiträge ihnen hier und da die Mitgliedschaft zu verleiden."

1914 warnte der Vorsitzende des GBYC auf der Mitgliederversammlung nochmals ausdrücklich vor einem quantitativen Wachstum und forderte eine "quantitativ-qualitative Werbearbeit .... Ist das Ergebnis ein anders Geartetes, ein mehr zahlenmäßiges, so entwickelt sich für unseren gesunden und edlen Sport und unsere treue Vereinskameradschaft ein unausrottbarer Krebsschaden." Die Abteilung Konstanz wehrte sich deshalb 1914 gegen eine Herabsetzung des Eintrittsgeldes in den Gesamtverein, weil "durch die Herabsetzung minderwertige Elemente in den Club hineingelangen".

Wer das gesellschaftliche Element nicht als Supremat im Segelsport anerkannte, war in den Augen der meisten damaligen Segler kein Mensch und definitiv kein Gentleman mehr, sondern ein 'intrigierendes, minderwertiges Element', das einen 'unausrottbaren Krebsschaden' in den Segelsport hineintrug. Hierin erkennt man die Überspitzung des elitär gesellschaftlichen Denkens und gleichzeitig seinen Höhepunkt. - Obwohl der Überlinger Club damals nachgab, langfristig konnte sich die Gesellschaftlichkeit jedoch in dieser Form gegen den zunehmenden sportlichen Einfluß nicht halten.

9. Das personalistische Weltbild

Ein Zeichen der oberschichtspezifischen Gesellschaftlichkeit der kleinen überschaubaren Gruppen war das personalistische Denken und Weltbild der meisten Segler. "Große Taten werden meistens von einzelnen vollbracht. Ein weltgeschichtlich bedeutendes Jahr ist 1969. Der Mensch hat seinen Planeten erstmalig verlassen und ist auf unserem Nachbargestirn, dem Mond, gelandet. Nur von einer kleinen Zahl wurde dieses Meisterstück der Menschheit geleistet. So wird es auch immer bleiben, die große Masse kann nur Zuschauer sein. Die Leistung selbst bleibt einzelnen, Könnern und Wagemutigen vorbehalten.
Dies gilt in kleinem Maßstab für jeden, der mit seinem Schiff ausläuft, nur auf sein und seiner Besatzung Können gestützt, um den Kampf aufzunehmen mit den Elementen, die ihm Freiheit und Abstand von der Masse geben. Es können nur Idealisten sein, die in ihrer Freiheit willens sind, Anstrengung und Verantwortung auf sich zu nehmen, um Besonderes zu erleben."

Abgesehen von der unzutreffenden Behauptung, daß die Landung auf dem Mond eine Einzelleistung war, bleibt das noch Ende der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts verbreitete Bild des Seglers als freiheitsliebenden Individualisten, der allein mit den Elementen kämpft. Ferner wird selbst heute noch die Distanz zur Masse und das Besondere als wichtiges Kriterium der Bodenseesegler gesehen. Man spricht ferner nicht von Arbeit, sondern von Leistung, Anstrengung und Verantwortung des Einzelnen.

Bei den Regattapreisen kann man das personalistische und objektbezogene Denken noch verstehen. Meist handelte es sich zu Beginn des Segelsports um Einzelpreise, die von Personen gestiftet wurden. Daneben gab es Preise von Gruppen oder Städten, welche jedoch immer als Objekt angesehen wurden. Es handelte sich folglich stets um den Gewinner des Soundso-Preises. Deutsche Meisterschaften, Europameisterschaft, Weltmeisterschaft - also abstrakte Strukturen - mit abstrakten Titeln wie Deutscher Meister etc. traten im Segelsport erst sehr spät - in der Zwischenkriegszeit - auf.

Das personalistische Denken zeigt sich bis heute auch an Buchtiteln im Segelsport wie 'Segeln mit Soundso'. Auch deren Inhalte sind deutlich: "Männer, die voransegeln". In den Jahrbüchern der Clubs wurde oft jeder einzelne Stifter und Gönner einzeln erwähnt. Selbst in modernsten Festschriften finden sich grundsätzlich die Listen sämtlicher Vorstände des Vereines seit Gründung. Auch Vereinsgeschichten, die sich fast ausschließlich auf Einzelpersonen beziehen und deren Taten hervorheben, huldigen dieser Einstellung unter Verleugnung struktureller Einflüsse.

Das personalistische Denken führte auch zur Personifizierung der Naturkräfte und Schiffe. So wurde der Wind als Windgott Aeolus oder Rasmus bezeichnet. Besonders deutlich wird dieses Verhalten an den Segelbooten. "Automobile tragen Nummern, wie es sich für Serienerzeugnisse der Industrie schickt. Fahrräder, als Massenerzeugnisse, bringen es oft nicht einmal zu diesem primitivsten Zeichen der Individualität.
Schiffe aber führen seit Urzeit, seit es überhaupt eine Schiffahrt gibt, einen Eigennamen wie lebende Wesen." Dies fängt bei der Taufe und der Namensgebung an und führt bis zum tragischen Ende eines Schiffs. So sprechen die Segler gerne von einem 'Schiffsfriedhof'. Manchen Yachten trauerten die Segler am Bodensee so sehr nach wie verstorbenen Menschen. Es gab sogar Nachrufe auf Yachten. Man spricht in diesem Zusammenhang auch häufig vom "Lebenslauf" der Yachten. Viele in Clubs organisierte Segler können die gesamte seglerische 'Lebensgeschichte' nicht nur von herausragenden Seglern, sondern auch von bekannten Yachten erzählen. Beide Aspekte dominieren üblicherweise die Festschriften.

Selbst Segel wurden so betrachtet. Am Bodensee wurden die Segel mit Schmetterlingen verglichen: "heute schon ziehen ganze Schwärme der weissen Falter über die blaue Fläche." Noch Ende des 20. Jahrhunderts schrieb ein Segler, daß Segel "'atmen'" und: "Ein gutes Segel an einem ungenormten Mast ist wahrscheinlich ein ganz anderes Lebewesen." Diese Tendenz ist zwar am Bodensee geringer, jedoch ebenso vorhanden. Sie bezeugt ein sehr enges - in manchen Fällen übersteigertes - Verhältnis vor allem der Eigner zu ihrem Boot.

Viele Segler orientieren sich somit nicht an abstrakten Strukturen. Es handelt sich im Gegenteil um eine personen- und objektbezogene Betrachtungsweise, die sich am Einzelnen und Herausragenden orientiert. Das personalistische Denken im Segelsport war jedoch kein Sonderfall, sondern typisch für die Oberschicht. "Der wohlerzogene müßige Herr sieht die Welt unter dem Gesichtspunkt einer persönlichen Beziehung". Verstärkt wurde dies dadurch, daß es zunächst nur sehr wenige Segler gab. Selbst am Bodensee kannten sich die aktiven Segler vor dem Ersten Weltkrieg und noch in der Zwischenkriegszeit fast alle persönlich.

10. Imitation der Adligen

Der Unterschied zwischen der 'gemeinschaftlichen Funktion' eines normalen Sportvereins und der 'gesellschaftlichen Zeremonie' eines Segelclubs tritt deutlich zutage. Dieses damals in den Segelclubs anzutreffende Sammelsurium aus Motiven und Verhaltensweisen, welches sich mit 'gesellschaftlich' umfassen läßt, war zwar bei den Seglern keineswegs regimefeindlich und dennoch zutiefst politisch, in dem Sinne, daß man sich in diesen Segelclubs eine eigene Gesellschaft - einen idealen Ministaat außerhalb desselben - errichtete.

Die Segler bildeten im strengen Sinne keinen 'nationalen' Staat im Staat, sondern eine supranationale ideale Gesellschaft. Diese extremen Individualisten siedelten ihre Verbindung, und somit sich, oberhalb des eigentlichen Staatswesens an. Dies läßt durchaus an die Adligen der früheren Jahrhunderte erinnern, welche - trotz aller Konflikte - sich immer zu einer gemeinsamen Schicht oberhalb des nationalen Staatsgebildes gehörig fühlten. Und gleichzeitig fühlten sich die Segler auch wiederum ihren Nationen verbunden, wodurch weitere interne Spannungen entstanden - besonders in Kriegen.

Allerdings handelte es sich bei diesem "Staatswesen" nicht um ein nationales oder gar nationalistisches Konstrukt, sondern um ein supranationales Gebilde.

Man imitierte in den Segelclubs nicht selten die prachtvolle Förmlichkeit der Adelswelt. Segelsport bestand besonders in der Anfangszeit aus: Paradeauffahrten und Geschwadersegeln sowie Korsofahrten mit höfischem Prunk. Das Geschwadersegeln - auch "Evolutionieren" genannt - ist in der Entwicklungsgeschichte des Segelsports als Reminiszenz des höfischen Segelsports der ersten Phase anzusehen. Das Geschwadersegeln entstand früh am englischen Hof und wurde dort perfektioniert, wobei alle Yachten auf Flaggenkommando - meist der königlichen Yacht - bestimmte vorgegebenen Formationen, ähnlich dem höfischen Tanz, einzunehmen hatten. Takt, Maß und Ästhetik bestimmten den Gesamtablauf. Es darf keineswegs mit dem heutigen Geschwadersegeln, dem Lustsegeln in einer zwanglosen Gruppe, verwechselt werden. Dieser erstaunliche Aspekt ist auch am Bodensee nachweisbar. "Ein entzückendes Bild! Die Boote mit den schwellenden blendend weißen Segeln fahren in gerader Linie und machen auf Kommando Schwenkungen mit militärischer Pünktlichkeit und Genauigkeit." Der auch am Bodensee gebräuchliche Ausdruck 'Geschwadersegeln' klingt allerdings martialischer als der Zustand tatsächlich war.

"Der Zweck des Evolutionierens ist, ein gleichmässiges Uebergehen der Yachten nach festgesetzten Regeln von einer Ordnung in die andere". Die Figuren hatten würdevoll, formvollendet, höfisch - ähnlich einem Menuett abzulaufen. Wie beim höfischen Tanz, sollte durch die gleichzeitige präzise Ausübung von Bewegungen ein einheitliches übergeordnetes Gesamtbild entstehen. Dies hatte jedoch nichts mit der gedrillten und abrupten Form der Militärparade gemein, sondern war in bestimmten stilvollen, ruhigen Bewegungen, mit einer künstlerischen Leichtigkeit in einer genauen Reihenfolge zu absolvieren. Selbst Segler späterer Generationen empfanden noch diesen Zusammenhang: "'Segeln hat wie das Musische viel mit Harmonie zu tun.'" Das gemeinsam zelebrierte, höfische und ästhetische Element dominierte in der Frühzeit. Zentral war für die Segler der Begriff der 'Ordnung'. Ungeordnetes, individualistisches Segeln als Selbstzweck wollte man damals noch nicht. Man verstand die individuelle Freiheit des Einzelnen noch darin, daß er sich durch seine Freiheit in die Lage versetzt sah, sich auf eine höhere Stufe der Weltordnung zu begeben. Freiheit wurde somit als Mittel und noch nicht als Ziel aufgefaßt.

11. Stil, Formgefühl und Harmonie

Diese sich aus den Exerzitien damals entwickelnde Sonderform des Geschwadersegelns hat mit einem überaus hochentwickelten Stil- und Formgeschmack der Ausübenden zu tun und belegt ein hohes Harmoniebedürfnis sowie eine deutliche Anlehnung an die Förmlichkeit der adligen Höfe. Eine zufällig im Bregenzer Segel-Club erhaltene Anweisung für ein solches gemeinsames Formationssegeln mit unterschiedlichsten Segelbooten belegt dies auch am Bodensee und zeigt jedoch bereits den langsamen Untergang desselben nach der Jahrhundertwende. Die im Prinzip nur aus einer Vogelperspektive wirklich voll erfaßbare Figuren- und Formationenfolge, die deutlich an das höfische Menuett erinnert, war bereits aufgrund ihrer ungeheuren Kompliziertheit zu einer schriftlich festgelegten Choreographie erstarrt.

Die damalige genaue Einhaltung derart komplizierter Figurenabläufe mit unterschiedlichen Schiffen machte einen enormen Aufwand nötig. U.a. wurden für die Abstandsmessung von den Yachten aus, Winkeltabellen für jede Masthöhe jedes Boots aufgestellt. Diese Winkel waren während der Fahrt mit dem Oktanten zu messen. Und für den genauen Ablauf der Figuren wurden eigene Signale (meist mittels Flaggen) vereinbart. In der postulierten Idealform war das Geschwadersegeln Ende des 19. Jahrhunderts bereits kaum mehr durchführbar, so daß man sich bald auf die Ausgabe einer "Evolutionstafel" einigte. Auf ihr waren alle Manöver und ihr zeitlicher Ablauf genau beschrieben. Hier hatte sich ein Wandel bei den Seglern vollzogen. Das gelebte Geschwadersegeln der Frühzeit erstarrte bereits im 19. Jahrhundert zur mechanischen Ausübung von vorgegebenen Sequenzen, die man vom Blatt ablesen mußte.

Spätestens 1906 war das Geschwadersegeln für die Segler auch am Bodensee derart kompliziert, daß man dafür im voraus umfangreiche Pläne mit dem detaillierten Ablauf für jedes Segelboot mit der jeweilig einzunehmenden Position und Figur ausarbeitete und verteilte. Man setzte zwei Richtungsschiffe ein, nach denen sich die anderen Fahrzeuge auszurichten hatten. Normale und verkehrte Kiellinie, Dwarslinie rechts und links, Staffel normal links und rechts sowie verkehrt links und rechts. Alle Figuren wurden im Programm aufgelistet. Auch gemeinsames Ankern mit vorherigem geordneten Ausschwärmen der Boote gehörte zum Geschwadersegeln. Signale zu Manövern sollten am Bodensee per Nebelhorn gegeben werden. Zumindest war mit 17 Teilnehmern 1906 das Interesse daran noch groß, aber bereits in das Absegeln vorgegebener Tanzfiguren fest erstarrt. Das gemeinsame ästhetische Moment im an das höfische Menuett erinnernden Geschwadersegeln trat dann in den Hintergrund, weil bei den Seglern das Gefühl für Figuren, Takt und langsamen Rhythmus zunehmend verloren ging und somit auch das Verständnis für den eigentlichen Sinn des Geschwadersegelns, so daß es bald aus dem Segelsport verschwand und das Wort die neue Bedeutung eines gemeinsamen Ausflugs annahm. Da der Niedergang des Geschwadersegelns einherging mit dem Aufkommen des Regattasegelns, wurde das höfische Zeremoniell folglich durch ein aus der Arbeitswelt stammendes abstraktes Zeitgefühl und somit ein Segeln gegen die Uhrzeit in Stunden, Minuten und Sekunden ersetzt. Der früher festgelegte künstlerische Rhythmus, der durch ständiges Üben nur präziser eingehalten werden konnte, wurde hier von einer ständig mittels technischen Verbesserungen verringerbaren Zeitspanne abgelöst. Dies war jedoch kein Vorgang, welcher nur im Segelsport auftrat, sondern eine allgemeine Entwicklung in der Industriegesellschaft, der sich das Segeln langfristig nicht entziehen konnte.

Die Segler strebten in vielen Dingen den Adligen nach. Manche Segelclubs gestalteten ihr Clubhaus sogar zu einem adligen Hof aus. Größere Vereine wie der NRV in Hamburg hielten sich - bis heute - einen eigenen "Hoffotografen" für Feierlichkeiten. Um ihre Vornehmheit und ihr Ansehen für weitere neue Mitglieder zu erhöhen, verwiesen Segelclubs in der Öffentlichkeit gerne auf ihre edlen - am besten adligen - Ehrenmitglieder. Besonders der 'adlige' Wunsch nach persönlichem Rückzug ließ sich im Club realisieren. Segelvereine kamen mit ihrer Tendenz zur Distanzbildung und Abschließung dem Wunsch der Oberschicht nach "geringer Publizität" entgegen. "Man möchte unter sich bleiben", und möglichst "wenig in der Öffentlichkeit zur Schau gestellt" werden. Im Segelclub ist man in gewissem Sinne unbeobachtet von den unteren Schichten.

Besonders in der Imitation von Moden der Aristokratie bestätigte sich allerdings auch die Unsicherheit dieser städtischen Bürgerschichten. Betrachtet man die Mitgliederlisten der damaligen Segelclubs genau, so stellt man fest, daß es sich eher um Personen des dominierten als des dominanten Teils der Oberschicht handelte. Ein Hotelbesitzer, Arzt oder Oberleutnant in Konstanz war zwar Mitglied der Oberschicht, aber kein herausragendes Mitglied. Es läßt sich somit zeigen, daß es sich am Bodensee meist um Mitglieder des unteren Bereichs der Oberschicht handelte. Dies wiederum erklärt, warum man derart großen Wert auf die Gesellschaftlichkeit legte. Es läßt sich daher vermuten, daß zumindest einige Segler am Bodensee im Segelsport die Möglichkeit eines sozialen Aufstiegs anhand des 'königlichen Sports' sahen.

Da weltweit betrachtet Adlige bereits früher den Segelsport aufgegriffen hatten als die bürgerlichen Clubs, kann man die Gründung von Segelvereinen - besonders da am Bodensee Adlige in den Vereinen weitestgehend fehlten - auch als weiteren bürgerlichen Emanzipationsprozeß sehen. Durch die exklusiven Vereine versuchte sich das Bürgertum gesellschaftlich zu distinguieren. Als Vorbild hatte man beim Segeln die adlige Gesellschaft. In den Vereinen wurde - wie bei den Adligen - neben dem sportlichen Element vor allem dem gesellschaftlichen Teil, zumindest in der Gründerzeit, enorme Bedeutung zugemessen. Segelvereine können folglich als elitäre Gesellschaft innerhalb der Gesellschaft angesehen werden. Im Gegensatz zur adligen Welt sah man sich jedoch gezwungen, gewisse Regeln und Umgangsformen schriftlich zu fixieren, obwohl man gleichzeitig die Ideale des freien Individuums hoch hielt und grundsätzlich davon ausging, daß jedes Mitglied sich richtig verhalten werde.

Dies wird in der auffälligen Förmlichkeit im Segelsport sichtbar. Etikette und Umgangsformen wurden sehr hoch bewertet. In diesem Zusammenhang sind auch die Herrensegler zu sehen, welche mit großem Aufwand unter Wahrung ihrer Würde standesgemäß segelten. 1899 konnte so erstmals in Bregenz das Ansegeln in aller Förmlich- und Festlichkeit durchgeführt werden. Ohne dies war man kein richtiger Club. Die Förmlichkeit reichte bis hin zu Ritualen, wobei sich selbst extreme Trinkrituale wie der traditionell erste Schluck für den Gott Neptun bis heute hielten. - Besonders bei Regattaveranstaltungen konnte das Gemeinschaftserlebnis durch umfangreiche und förmliche Eröffnungs- und Schlußriten, Zeremonien und Ritualen zur Gesellschaftlichkeit stilisiert werden. Derartige Übertreibung der formalen Elemente der Oberschicht und die scharfe Abgrenzung nach unten waren jedoch beim aufsteigenden beziehungsweise dem neu geadelten Bürgertum damals durchaus allgemein feststellbar.

Als die Liberalen ihre Ziele nicht mehr in der Landgesellschaft verwirklichen konnten, zogen sie sich in die Clubs zurück und bauten dort ein "Staatswesen" gemäß ihren Idealen auf.

Das personalistische Weltbild wurde sehr wichtig für die 'außenpolitischen' Beziehungen der Segelclubs. So verehrten sie den Kaiser und einige andere Adlige, weil sie sich als Person für den Segelsport einsetzten, aber keineswegs die Monarchie als Regierungsform. Diese Fähigkeit der äußerst feinen Unterscheidung zwischen der Person und einer Sache, welche jene Person vertritt, läßt sich häufiger in der Oberschicht finden.

12. Soziale Hintergründe

Warum sich die Segler eine derartige Welt schufen und sich in sie teilweise sogar schutzsuchend zurückzogen, läßt sich zum großen Teil aus der damaligen Zeit verstehen. Die Industrialisierung mit ihren technischen und sozialen Umbrüchen erzeugte besonders im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts in den Augen der Oberschicht, auch am Bodensee, eine "wachsende Wirrniß und Verwirrung".

Die Entstehung der ersten Turnvereine wurde auf ein Geselligkeitsgefühl zurückgeführt, das durch den Zerfall der Zunftgremien aufkam. Diese direkte Verbindung läßt sich im Segelsport nicht nachweisen. Hier handelt es sich eher um eine komplizierte Bewegung gegen die industriellen Erscheinungen, welche die alten ständischen Strukturen auflösten, kombiniert mit einer Ersatzbewegung für die in der Landgesellschaft in Deutschland und Österreich verwehrte umfassende politische Mitwirkung. Die Geselligkeit allein spielte nicht die ausschlaggebende Rolle. Hier handelte es sich um mehr: um das Bedürfnis, eine eigene ideale Gesellschaft im Kleinen zu errichten. Somit bildete der organisierte Segelsport für diese Segler damals ein Rückzugsgebiet, in welchem sie - abgeschirmt von der Außenwelt, welche sie zunehmend weniger verstanden und fast nur noch als schädlich ansahen, - die letzten Ideale pflegen wollten. Der Segelclub wurde in den Augen der Segler quasi zu einem Schutzgebiet für ihre in der Gesellschaft zerfallenden Weltanschauungen. Der Club und der gesamte Segelsport sollte den ruhenden Pol in einer sich ständig schneller verändernden Welt bilden - ein Paradies, in welches man sich zurückziehen konnte.

Daneben zeigt sich das paradoxe Aufstreben des Bürgertums anhand von ihm selbst infragegestellter Normen. Als spätestens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Bildungsbürgertum und das Wirtschaftsbürgertum Macht und Einfluß gewannen, adaptierten und reproduzierten diese neuen sozialen Eliten - in einer nicht mehr ständisch gegliederten Welt - ursprünglich adlige Konventionen. Allerdings mußten sich die in sich heterogenen Bürgerlichen - im Gegensatz zu den Adligen, bei denen bereits der Adelstitel selbst distinguierte und einen Träger zu einer bestimmten Gruppe zugehörig erklärte - ihre distinguierende Gesellschaft erst bilden. Man beschritt beim Segeln den im 19. Jahrhundert vielbegangenen Weg der Vereinsgründung. Denn Vereine haben neben dem Effekt, nach innen nivellierend zu wirken, gleichzeitig die Wirkung, nach außen die Gruppe abzuschließen. Spezielle Kleidung und Abzeichen sollten die elitäre Zugehörigkeit zu exklusiven Kreisen verdeutlichen. Indem man eine gemeinsamen Elite aufzubauen versuchte, ging man noch weiter: Durch und im Segelsport sollte ein Gesinnungsadel geschaffen werden.

Eine Orientierung an der adligen Welt war zwar schon früher von Aufsteigern betrieben worden, aber hier handelte es sich dennoch um eine anachronistische Handlung. Während besonders das liberale Bürgertum sich im 19. Jahrhundert lange vergeblich gegen die Adligen gestellt hatte und von ihnen von der Macht im Staate oft gewaltsam ferngehalten wurde, wollten die aus diesen liberalen Kreisen stammenden Segler zu der Zeit, als die Adligen im Niedergang begriffen waren, eine an der Adelsfamilie orientierte weltweite Segelfamilie der Gentlemen aufbauen, welche sich - wie Adelshäuser - notwendigerweise auf persönlichen Beziehungen und personalistischen Denkmustern gründete. Diese auf den ersten Blick paradoxe Handlung läßt sich nur als in ihrer enormen Auswirkung damals überwiegend unbewußte aber dennoch aktiv herbeigeführte Gegenbewegung gegen die, durch die Industrialisierung hervorgerufene, Auflösung der ständischen Welt verstehen, welche auch den bürgerlichen Stand bedrohte.

Insbesondere die Theorie der eigenen Gesellschaft, des eigenen Staatswesens, läßt es verständlich werden, warum die Segler sich bis heute gegen jegliche rechtliche Ordnung von außen so vehement wehrten. Abgesehen davon, daß derartige Gesetze die persönliche Entscheidungsfreiheit des Einzelnen einschränkten, untergruben sie die 'Souveränität' dieses 'Staatswesens' Segelclub und ließen die gesamte Struktur als das erscheinen, was sie war - eine weitgehend selbstgeschaffene Fiktion -, die jedoch jahrzehntelang von vielen tausend Menschen täglich gelebt wurde.

13. Erster Weltkrieg

Geistig versunken in ihre Gesellschaftlichkeit unterlief vor allem den deutschen Seglern jedoch ein gravierender Denkfehler: Sie gingen von Ihrer bildungsbürgerlichen Sicht der Dinge aus und postulierten, daß jeder, der sich dem Segelsport widmete, auch ihre übernationalen Ideale und Denkweisen besitzen müßte. Das Gegenteil zeigte sich dann im Ersten Weltkrieg: Im Deutschen Segler-Verband erachtete man es nicht für notwendig, nur wegen eines Weltkrieges aus einem von England dominierten Weltsegelverband auszutreten. Im Gegenteil legte der DSV Jahr für Jahr die schuldigen Mitgliedsbeiträge für die International Yacht-Racing-Union zurück, um sie sobald als möglich dem englischen Dachverband zukommen zu lassen. Von Nationalismus oder Kriegshetze läßt sich in den ersten Kriegsjahren kaum etwas in den einschlägigen Publikationen des Segelsports in Deutschland finden. Ganz im Gegenteil nahmen die Segelaktivitäten in Deutschland im Krieg sogar wieder stetig zu! Nicht nur privat wurde je schlimmer der Krieg war umso öfter gesegelt, selbst die vom Dachverband offiziell ausgeschriebenen Regatten nahmen laufend zu. Dies war nicht ihr Krieg, die Monarchie nicht ihre Regierungsform und das Kaiserreich auch nicht ihr Staat.

Die Segler der alliierten, mehrheitlich wesentlich demokratischeren Staaten, zeigten hingegen deutlich nationalistischere Züge als die deutschen Segler. Den alliierten Seglern fehlte die für den deutschsprachigen Segelsport typische politische Komponente. Sie konnten sich in ihrem "Staatswesen" verwirklichen und mußten den Sport und dort wiederum besonders das Clubwesen nicht als politische Gegenwelt aufbauen. So kam es im Ersten Weltkrieg zu der paradoxen Gegenüberstellung, daß im mehrheitlich zweifellos nationalistischen Deutschen Kaiserreich die Segler überwiegend bis zum Kriegsende unnationalistisch dachten und handelten, während die Segler der alliierten Demokratien die nationalistischen Tendenzen des Krieges durchaus mittrugen und sich davon sogar hinreißen ließen. Im Falle Englands wurden sogar extrem nationalistische und pauschal antideutsche Maßnahmen als Vergeltung für den Ersten Weltkrieg ergriffen, die zum Ausschluß des Deutschen Segler-Verbandes 1919 aus dem Weltdachverband führten.

14. Weimarer Republik

Erst durch diesen Hinauswurf, während der Weimarer Republik, wurden viele deutsche Segler nationalistisch. Überwiegend hielt dies allerdings nur bis zur - im Vergleich zu anderen Sportarten sehr späten - Wiederaufnahme in den Weltdachverband 1928 an. Aufgrund ihrer personalistischen Denkweise hielten die meisten deutschen Segelclubs jedoch an ihren adligen Protektoren und Clubnamen fest, nicht weil sie deren Monarchie als politisches System wünschten oder unterstützten, sondern weil sie sich an ihr Ehrenwort gebunden fühlten für die erwiesenen Gesten dieser Adligen Individuen. Selbst manche Behörden erkannten das: "Die Bezeichnung 'Großherzoglich' erklärt sich daraus, dass der frühere Grossherzog von Baden jetzt noch Kommodore des Klubs ist und dass man aus persönlicher Anhänglichkeit diese Bezeichnung nicht streichen wollte. Irgendwelche politischen Absichten dürften ausgeschlossen sein." - Da der Dachverband in gleicher persönlicher Verbundenheit an der vom Kaiser verliehenen alten Verbandsflagge (Schwarz-Weiß-Rot mit Zusatzemblem) festhielt, mußten die Segler sich ebenfalls heftigste öffentliche Kritik gefallen lassen.

Die noch mehrheitlich liberalen Segler in den Segelclubs waren keineswegs für das alte Regime im Staat, hielten jedoch in elitärer Überheblichkeit die Demokratie, die sie in ihren Clubs praktizierten, für die 'Leute' an Land nicht für geeignet. Sie fürchteten zu sehr eine daraus entstehende Unordnung und sahen sich in den Wirren der Weimarer Republik bestätigt. Genau genommen versuchten sich die Segelclubs wie ein externer Staat durch absolute Neutralität völlig aus der Politik dieses Landstaates herauszuhalten. Allerdings handelte es sich auch um Desinteresse am Landstaat, so daß es keinen Widerstand beim Untergang der von ihnen praktizierten Demokratie 1933 im Staatswesen gab. Bald mußten die Segler jedoch erleben, daß die Diktatoren eine irgendwie geartete exterritoriale oder neutrale Stellung der Clubs nicht akzeptierten.

15. Ingenieure

Während man bei den langsam sportlicher werdenden Regatten vor dem Ersten Weltkrieg die erheblichen Spannungen zwischen Clubwesen und Sport, zwischen Gesellschaftlichkeit und den das Individuum heraushebenden Sieg in der Wettfahrt, zwischen gemeinschaftlichem Tourensegeln und Einhandregattaseglern noch mühsam dadurch überwand, daß es ein innerpersonelles Problem war, weil fast jeder Segler sowohl Touren- als auch Regattasegler war, so entwickelte sich dieses Problem während der Weimarer Republik zu einem intrapersonellen mit ungeahnter sozialer Sprengkraft. Wie in der Landgesellschaft Techniker nach dem Ersten Weltkrieg in die Oberschichten aufstiegen, weil man auf ihre Kenntnisse nicht mehr verzichten konnten, so traten die Ingenieure vermehrt in die Segelclubs ein. Rationalistisch die Details verbessernd verloren sie das Ganze aus dem Auge. Mit wissenschaftlichen Methoden optimierten sie den Segelsport und entzauberten ihn gleichzeitig. Sie veränderten das Segeln tiefgreifend, indem sie die Kunst der wenigen Gottbegnadeten zur allgemein verständlichen und nun in Schulen und Lehrbüchern erlernbaren Technik reduzierten. Der moderne Regattasegler war seitdem kein Künstler mehr, sondern ein Fachmann, der fast ausschließlich an seinen technischen Fähigkeiten gemessen wurde und werden wollte. Die Industrialisierung hielt Einzug im Segelsport.

Einfach Gentleman zu sein reichte jetzt nicht mehr als Berechtigung zur Mitgliedschaft aus. Als Ergebnis nahmen die passiven Mitglieder in den Segelclubs im Verhältnis zu den aktiven dramatisch ab und die Gesellschaftlichkeit zeigte deutliche Auflösungserscheinungen. Daß es in den Segelclubs in den 20er Jahren zu heftigen Umbrüchen kam, zeigt, daß hier zwei Lebensformen aufeinanderprallten. Am Bodensee versuchte man die widerstreitenden Elemente in der internationalen Veranstaltung Bodensee-Woche zu vereinen: Gesellschaftlichkeit und Regattasport. Dank Weltwirtschaftskrise und Diktatur gelang dies sogar unerwartet gut, weil den rein technikorientierten Mitglieder das Geld ausging, in der Unterdrückung der Segelclub wieder zum politischen Rückzugsgebiet werden konnte und gleichzeitig die sportliche Komponente unerwartet wieder in den Hintergrund trat.

Demokratie

Aufgrund des schweren Rückschlages, den der Zweiten Weltkrieg verursacht hatte, konnte man Anfang der 50er Jahre das Symbol der Gesellschaftlichkeit, die Bodensee-Woche, im alten Glanz wieder erstehen lassen, wobei man sogar die Kieler Woche in den Schatten stellte. Ab Mitte der 50er Jahre kam es allerdings zu ständig wachsenden Problemen, welche Anfang der 70er Jahre zur Einstellung dieser Veranstaltung führten. Die Gründe sind vielfältig, lassen sich jedoch auf das Massenphänomen zurückführen. Die Gesellschaftlichkeit war auf das personalistische Weltbild gegründet. Als die Bodensee-Woche zur Massenveranstaltung wurde, kam es zur Gruppenbildung. Hieraus entstanden letztendlich die selbständigen Klassenregatten. Da es gleichzeitig auch in den Segelclubs aufgrund des zunehmenden Wohlstandes der Bevölkerung verbunden mit den durch Kunststoffe immer preiswerteren Segelbooten zur "Wasserwelle" kam, trat auch dort die Gesellschaftlichkeit in den Hintergrund. Kleinere Segelclubs und vor allem einige Bootsklassenvereinigungen versuchten, sie noch in einem wiederum überschaubaren kleinen Personenverband länger am Leben zu erhalten.

Resümee

Der Segelclub bildete somit in der Anfangszeit des Segelsports in Deutschland und teilweise in Österreich nicht, wie oft behauptet, ein Staat im Staat, der diesen widerspiegelte. Im Gegenteil sollte eine hochkomplexe, am Ständischen orientierte und gleichzeitig mit liberalen Aspekten verfeinerte elitäre Gesellschaftlichkeit oberhalb der nationalen Staaten geschaffen werden. Die Gesellschaftlichkeit in den Segelclubs wurde damals von einigen vor allem liberalen Mitgliedern der Oberschicht als Ausweg aus einer auf dem Land politisch ausweglosen Situation gesehen. Sicherlich handelte es sich von außen rational betrachtet bei der postulierten Unabhängigkeit der Gesellschaftlichkeit, oder wie die Segler eher sagen: der eigenen Welt, um eine Fiktion, die jedoch von tausenden von Menschen über Jahrzehnte hinweg gelebt wurde.

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